Kolumne Minority Report: Wer was sprechen darf

„Nur eins von 103 Kindern spricht zu Hause Deutsch“, schrieb die „Bild“. Statt sich über die Mehrsprachigkeit zu freuen, werden Kinder stigmatisiert.

Ein Mädchen meldet sich im Schulunterricht

Wie bitte? Jetzt soll Mehrsprachigkeit plötzlich etwas Schlechtes sein Foto: dpa

Es ist ein Phänomen, dem sich Studien seit einigen Jahren widmen: Bestimmte Kompetenzen und Eigenschaften von Personen werden gesellschaftlich je nach Gender sehr unterschiedlich bewertet. „Ehrgeiz“ zum Beispiel. Wenn Männer sich am Arbeitsplatz ehrgeizig zeigen, dann wird das meist positiv bewertet und honoriert. Wenn Frauen dagegen Ehrgeiz offenbaren, gelten sie nicht selten als egoistisch, nicht teamfähig und werden in der Folge weiter benachteiligt. Nach den letzten US-Wahlen etwa führte man den Misserfolg von Hillary Clinton unter anderem auf dieses Ungleichgewicht zurück.

Doch Gender ist nicht die einzige Kategorie, die unsere Kompetenzen schnell in Stigmata verwandeln kann. Viele von uns wurden vergangene Woche noch mal unsanft daran erinnert, als mehrere Springer-Blätter eine Neuköllner Lehrerin mit folgendem Satz zitierten: „Nur eins von 103 Kindern spricht zu Hause Deutsch.“ Eine interessante Zahl, die Rede ist zwar von den Erstklässler_innen in einem der diversesten Bezirke des Landes – kaum überraschend, dass ein Großteil der Kinder in Neukölln multilingual aufwächst –, aber dennoch: beeindruckende Zahl. Und jetzt?

Erfreuen wir uns daran, dass immer mehr Kinder mit mehr als einer Sprache aufwachsen, also höchstwahrscheinlich eine weitere Fremdsprache leichter lernen werden und dementsprechend eine kulturelle, politische sowie wirtschaftliche Bereicherung für dieses Land sein könnten? Natürlich nicht. Stattdessen wird in der Berichterstattung der fatalste Weg gegangen: Die Mehrsprachigkeit der Kinder wird stigmatisiert. Weshalb? Weil sie arm sind.

Mehrsprachigkeit als „Integrationshemmnis“

Oder käme die Bild darauf, französische Expat-Familien zu porträtieren und deren Kinder zu bemitleiden, weil zu Hause nur Französisch gesprochen wird? Schickt man saudische Tourist_innen, die in München Dolce&Gabbana-Blusen kaufen wollen, aus der Boutique mit den Worten: „Wir werden arabisiert!!!“

Nicht, dass ich wüsste. Zum Problem werden hier nämlich Familien erklärt, die in der High-Deck-Siedlung an der Köllnischen Heide leben, wo auch besagte Schule liegt, und die dort nur leben, weil sie arm sind: Es handelt sich um Sozialwohnungen, die für Familien mit niedrigem Einkommen vorgesehen sind. Also Kindern, die durch ihren sozialen Status sowieso schon stigmatisiert sind, wird auch noch ihr wichtigstes Machtinstrument schlechtgeredet: ihre Sprache. Als seien sie nicht privilegiert, sondern bemitleidenswert, nicht besonders, sondern wertlos, weil sie neben dem Deutschen auch noch das Türkische, Arabische oder Thailändische beherrschen.

Dass Mehrsprachigkeit in diesen Berichten als Integrationshemmnis schlechthin dargestellt wird, unterstreicht ein weiteres Mal, wie absurd das ganze Konzept von Integration ist. Denn würde ihm tatsächlich etwas an einer fortschrittlichen Gesellschaft liegen, müsste nicht das 103. Kind stattdessen geächtet werden, für seine ignoranten Eltern, die nur Deutsch sprechen können und sonst nichts?

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ehem. Redakteurin im Ressort taz2/Medien. Autorin der Romane "Ellbogen" (Hanser, 2017) und "Dschinns" (Hanser, 2022). Mitherausgeberin der Literaturzeitschrift "Delfi" und des Essaybands "Eure Heimat ist unser Albtraum" (Ullstein, 2019).

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