„Man weiß nie, was aus ihnen geworden ist“

Statt in die USA ging’s in die Psychiatrie: Anne Rietschels dokufiktionales Theaterprojekt „Wahnsinn aus Heimweh“ beschäftigt sich im Sektionssaal des Medizinhistorischen Museums mit der weitgehend unbekannten Geschichte der sogenannten „geisteskranken Rückwanderer“

Nicht so leicht in die Betroffenheitsfalle tappen: Menschengroße Puppen von Cora Sachs stellen die Auswanderer dar Foto: Steffen Baraniak

Interview Katrin Ullmann

taz: Frau Rietschel, wie sind sie auf die Geschichten der sogenannten „geisteskranken Rückkehrer“ gestoßen?

Anne Rietschel: Die Idee entstand bei Recherchen zum Projekt „Bye Bye Hamburg“, das ich 2013 gemeinsam mit dem Regisseur Christopher Rüping am Thalia-Theater entwickelt habe. Darin ging es um Auswanderer Ende des 19. Jahrhunderts in die USA, um ihre Hoffnungen, Sehnsüchte und Abenteuer. Im Zuge der Recherchen habe ich Professor Dr. Heinz-Peter Schmiedebach vom Institut für Geschichte und Ethik der Medizin am Uniklinikum Eppendorf (UKE) kennengelernt, der auch Direktor des dortigen Medizinhistorischen Museums ist. Er hat zum Thema der Rückwanderer in der Anstalt Friedrichsberg geforscht und mir davon erzählt.

Ein noch weitgehend unbekanntes Kapitel der Migrations-, aber auch der Psychia­triegeschichte. Die Akten hatte Dr. Stefan Wulf vom UKE entdeckt.

Ja, es waren insgesamt 446 Akten. Auf historische Patientenakten aus Friedrichsberg wurde immer der Beruf der Personen angegeben. Auf diesen Akten aber stand anstelle des Berufs „Rückwanderer“ oder „Rückwandererin“.

Ihr Stück führen Sie nun in einem Museum auf, in einem ehemaligen Sektionssaal noch dazu. Wie macht man dort Theater?

Der Raum, in dem das Stück spielt, ist ein riesiger, sehr eindrücklicher Raum mit marmornen Seziertischen und hellen Milchglasfenstern. Ein so mit Geschichte aufgeladener Raum stellt natürlich Ansprüche. Er hat eine sehr morbide Atmosphäre und ganz praktisch eine sehr schwierige Akustik.

Welchen Umgang mit dem Raum haben Sie gefunden?

Wir mussten umdenken. Wir thematisieren den musealen Aspekt in der Inszenierung sehr stark, und versuchen einen offensiven Umgang mit der Akustik. Da gibt es schöne Möglichkeiten, mit „Nichtverständlichkeit“ zu spielen, denn die Rückwanderer haben sich zu großen Teilen damals auch nicht mit den Ärzten verständigen können, da sie aus allen möglichen europäischen Ländern stammten, deren Sprachen die Ärzte gar nicht konnten.

Die als „insane“ beurteilten und zurückgeschickten Auswanderer werden von Schauspielern in menschengroßen Puppen verkörpert. Werden sie so nicht doppelt ausgestellt?

Das darf natürlich auf keinen Fall passieren. Wir haben uns für diese Überhöhung entschieden, weil so eine größere ästhetische Distanz entsteht, sich eine größere Unbedarftheit herstellt. Man tappt nicht so leicht in die Betroffenheitsfalle. Wenn man die Akten liest, ist da von Menschen wie dir und mir die Rede und es stellt sich die Frage, wie Geisteskrankheit da definiert wird.

Zwischen 1900 und 1914 wurden rund 450 sogenannte „geisteskranke Rückwanderer” in die Hamburger „Irrenanstalt Friedrichsberg“ eingeliefert. Überwiegend handelte es sich dabei um osteuropäische Auswanderer über den Transithafen Hamburg, die von den US-Behörden als geisteskrank eingestuft und wieder nach Europa zurückgeschickt worden waren.

Ihre Schicksale dokumentieren hunderte Akten aus den Archiven des Hamburger Universitätskrankenhauses (UKE).

Wie denn?

Eigentlich wirkt kaum jemand von ihnen „krank“. Oft sind diese Stigmatisierungen aus kulturellen und sprachlichen Missverständnissen entstanden. Es gab auch den Begriff der „Auswandererpsychose“: Wenn man sich vorstellt, dass man eine lange Reise ins Unbekannte macht, eingepfercht auf dem Zwischendeck, auf engstem Raum, hat seine Heimat aufgegeben und seine Lieben hinter sich gelassen, da entstehen natürlich psychische Irritationen.

Sie haben sich auf sechs aus über 400 aktenkundigen Fällen beschränkt.

Ich konnte relativ schnell herausfinden, welche Akten besonders viel Material für eine dokumentarische und poetische Erzählung enthalten. Es ist verblüffend, wie poetisch viele der Texte der Patient*innen sind, wenn man sie vom Kontext der Patientenakte befreit. Es wird bei uns sechs Protagonist*innen geben, aber viele andere werden mitschwingen.

Die Recherche war sicher aufwühlend …

Man lernt die Leute kennen, erfährt ihre Geschichte und am Ende bricht die Erzählung mit der Notiz des Arztes ab: „ungeheilt entlassen“ oder „an die Grenze befördert“. Man weiß nie, was aus ihnen geworden ist. Mich hat auch die Frage beschäftigt, wie übergriffig wir mit dem dokumentarischen Material umgehen dürfen. Schließlich handelt es sich um reale Menschen. Die zeitliche Distanz lässt einen das manchmal vergessen.

Hat Sie eine Geschichte besonders beeindruckt?

Foto: Krafft Angerer

Anne Rietschel, 32, ist Dramaturgin und arbeitete unter anderem fürs Thalia-Theater und die freie Szene.

Eine eindrückliche Geschichte ist zum Beispiel die eines jungen Mannes, der mit einer Körpergröße von 1,48 Meter an der Grenze abgewiesen wurde, wahrscheinlich weil man ihn nicht als „brauchbaren“ Teil des amerikanischen Systems betrachtete. Er wollte die Abweisung nicht akzeptieren und sprang von Bord des Dampfers, der ihn zurückbringen sollte. Zurück an Land geschwommen stempelte man ihn dann als „insane“ ab, eigentlich ja nur, weil er sich nicht seinem auferlegten Schicksal fügen wollte.

Heute werden wieder Flüchtlinge an Grenzen abgewiesen. Der Bezug zur Gegenwart ist offenkundig …

Es gibt viele Situationen, die sich spiegeln. Nur dass es damals Europäer*innen waren, die weg wollten beziehungsweise mussten. Interessant ist auch, dass Patient*innen, die unter Wahnvorstellungen leiden, öfter antisemitische Ideen äußern. Da gibt es seltsame Parallelen zur Islamfeindlichkeit heute. Dieser Antisemitismus ist insofern auch total paradox, als viele der als „Rückwanderer“ eingestuften Patient*innen wiederum jüdisch waren und vor Pogromen in Osteuropa geflohen waren. Das heißt, die eigentlich Verfolgten wurden im Verfolgungswahn der anderen zu Schuldigen …

Was ist, um nicht nach der Botschaft zu fragen, Ihr Wunsch an die Zuschauer*innen?

Die Komplexität des Themas zu erzählen ist eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist eine Herausforderung, den Grat zwischen Informationen und Unterhaltung zu finden. Wir versuchen in erster Linie, Geschichten zu erzählen, Schicksale, die letztlich viel über den Zustand heute erzählen. Durch diese Spiegelung stellt sich im besten Fall eine Reflexion über die Gegenwart her. Es sind einzelne Geschichten, die etwas Größeres erzählen, eine Auseinandersetzung mit der Willkür und Konstruiertheit der Grenze, sowohl im geografischen Sinne als auch der zwischen „Wahnsinn“ und „Normalität“.

Premiere: Fr, 30. 11., 20 Uhr, Medizinhistorisches Museum, Alter Sektionssaal. Weitere Aufführungen: 1./2./7./8./9. 12.