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: Etwas ist faul im Staate Kaschmir

Foto: „Haider“, Indien 2014, 302 Min. Regie: Vishal Bardwaj. Die DVD kostet circa 10 Euro.

Haider ist Hamlet (ist Shahid Kapoor). Wer es nicht weiß, merkt es nicht gleich, denn von Dänemark keine Spur. Der Ort ist Kaschmir, das Jahr 1995, da toben in der grandios im Himalaja gelegenen, zwischen Indien und Pakistan umstrittenen Region noch heftige Kämpfe. Separatistisch gesinnte Terroristen verüben Anschläge und werden brutal verfolgt, verschleppt, gefoltert und getötet. Haiders Vater gehört nicht zu den Separatisten, wird aber, weil er als Arzt einen von ihnen versorgt hat, ins Gefängnis gesteckt.

Da kehrt Haider, der Gedichte und andere Flausen im Kopf hat, vom fern gelegenen Studienort in seine Heimat zurück. Alte Freunde von ihm, Salman und Salman, betreiben eine Videothek und tanzen darin zu Salman-Khan-Song-and-Dance. Haider muss erleben, dass seine Mutter, die Grundschullehrerin Ghazala (Tabu), mit dem Bruder des Vaters anbändelt, der in die Politik geht und die Wahlen gewinnt. Haiders Geliebte Arshia (Shraddha Kapoor), ihr Bruder und beider Vater, Chef des örtlichen Militärs, machen das Hamlet-Tableau ziemlich komplett.

Enter Ghost? Der Geist freilich fehlt, zunächst. An seiner Stelle aber tritt später im Film eine geheimnisvolle Gestalt auf, Roohdaar. Er war mit dem verschollenen Vater im Knast, kann von dessen grausamem Tod im Fluss berichten und erteilt Haider den Auftrag zur Rache, das berühmte „Remember Me“, das Hamlet in dieser Bollywood-Adaption mehr noch als in der ohnehin schon blutrünstigen Vorlage ein „Dismember them all“ übersetzt. Gespielt wird Roohdaar von Irrfan Khan, den Regisseur Vishal Bhardwaj in seiner ersten Shakespeare-Adaption „Maqbool“ von 2003 als Titelhelden besetzt hatte. Das war eine Macbeth-Variante in der Mafia-Unterwelt Mumbais.

Zwischen „Maqbool“ und „Haider“ lag noch „Omkara“, ein Eifersuchtsdrama im Milieu der politischen Polizei. Bhardwaj dreht auch andere Filme, aber auf Shakespeare-Transpositio­nen ins zeitgenössische Indien ist er fraglos spezialisiert. Und alle drei Filme sind herausragend gut: äußerst smart im Verdichten, Transponieren, Verschieben. Nichts daran fühlt sich angestrengt an. Alles entwickelt aus der inneren Logik seiner Konstellationen heraus gewaltige Wucht.

Und es gelingt Bhardwaj, Figuren und Geschichten auf eine Weise in die Bollywood-Ästhetik zu übertragen, als wäre sie deren ur­eigenes Idiom. Von Haus aus ist Bhardwaj übrigens Komponist, auch der Score zu „Haider“ stammt von ihm und bewegt sich geschmeidig zwischen stampfenden Beats und mollgestimmten elegischen Tönen. Sogar die Song-and-Dance-Sequenzen fügen sich, mal als Aufgipfelung der Gefühle (in der Schauspieler-Szene), mal als Comic Relief (mit Totengräber-Tanz auf dem Friedhof) so sinnreich in den Film, dass Shakespeare bedauern würde, nicht selbst auf die Idee zu solchen Einlagen gekommen zu sein.

Gefangene macht der Film im Übrigen nicht. Die letzte halbe Stunde spielt komplett auf dem Friedhof, auf die Yorick-Sequenz folgt noch ein langer ödipaler Moment zwischen Mutter und längst aus allen Rudern gelaufenem Sohn. Seine alten Videothekarsfreunde Salman und Salman aka Rosenkrantz und Guildenstern, hat er auf denkbar brutale Art abserviert. Laertes wird nicht per Schwert, sondern per Totengräberschaufel zu Tode gebracht. Geschickt läuft der Kaschmir-Terror-Aspekt mal nur mit, um am Ende dann wieder mit Tod, Selbstmordattentat und zerfetzten Gliedern in den Vordergrund zu drängen. Bhardwajs ist eine sehr rabiate Hamlet-Action-Version, vom zaudernden Prinzen kaum was zu sehen. Als Betrachter ist man dafür am Ende zermalmt, wie man es bei anderen Fassungen des Stoffs selten erlebt.

Ekkehard Knörer