Dinge des Jahres 2018: Die Mission der alten Dame

Die „Lifeline“ rettete 2018 Geflüchteten das Leben. Zuvor war das Boot schottisches Forschungsschiff. Ein Protokoll eines alten Besatzungsmitglieds.

Ein Schiff auf See

Die „Lifeline“ im Einsatz Foto: dpa

Mein Name ist John Dunn. Ich bin 70 Jahre alt und habe knapp 50 Jahre als Meereswissenschaftler auf einem Schiff gearbeitet, das dieses Jahr berühmt geworden ist.

Mit dem Namen „Clupea“ wurde es 1968 in Aberdeen für die britische Behörde der Landwirtschafts- und Fischereiabteilung Schottlands gebaut. 2015 wurde es verkauft und trug dann zunächst den Namen „Sea-Watch 2“, anschließend „Lifeline“. Als ich las, dass meine alte Lady diesen Juni über 200 Flüchtlinge an Bord hatte, konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wo die alle untergebracht wurden. Als wir damals das Schiff bedienten, waren wir etwa sechs Personen für den Betrieb und sechs Forscher – und wir dachten damals schon, wir wären ziemlich viele.

Unsere „Clupea“ wurde als Ersatz für ein altes Holzschiff aus dem Zweiten Weltkrieg gebaut. Ich konnte damals die Inbetriebnahme vom Labor aus beobachten. Als Nachwuchsforscher war ich in meiner Karriere noch nicht weit genug, um bei ihrer ersten Fahrt dabei zu sein. Die Erwartungen an das Schiff waren hoch. Die Leute merkten schnell, dass die „Clupea“ ein sehr lebhaftes Schiff war, wie ein Seemann sagen würde. Ihre erste Tour ging zu den Lofoten-Inseln nach Norwegen. Das haben sie danach nie wieder gemacht, denn so eine große Distanz mit dieser lebhaften Dame war keine gute Idee. Sie bewegte sich einfach sehr viel, einige wurden seekrank. Danach fuhr die „Clupea“ meist um die Küste Schottlands.

Als ich 21 war, begann ich meine Arbeit als Planktologe auf dem Schiff. Es war benannt nach dem lateinischen Namen für Hering: Clupea heringus. Die Hauptaufgabe des Forschungsschiffs war die Beobachtung von Heringbeständen und deren Nahrung, also Plankton.

Ein Schiff für jeden Job

Ich erforschte die Gesundheit des Meeres, die Wasserqualität. Manchmal markierten wir Fische, um herauszufinden, wohin sie sich bewegten. Wir untersuchten die chemischen Bestandteile des Meerwassers, den Meeresboden oder Lochs – so bezeichnen wir in Schottland manche Meeresbuchten oder stehende Gewässer. Bei der letzten Fahrt auf der „Clupea“ erforschten wir, warum bestimmte Fische es bevorzugen, ihre Eier in bestimmten Gegenden abzulegen.

Über die Jahre hatte die „Clupea“ viele Jobs, einschließlich einer Funktion als Mutterschiff für unbemannte Tauchboote. Sie versuchte alles für jeden zu sein, das war nicht immer leicht. Und offensichtlich versucht sie das heute immer noch.

Was sie heute leistet, ist überwältigend. Ich schaue mir dieses Bild mit den 200 Menschen an Bord so oft an

Als ich das erste Mal von ihrem Verkauf hörte, dachte ich, sie würde als Dienstfahrzeug für Hochseewindparks genutzt. Ich hatte sofort Zweifel an ihrer Eignung und war mir sicher, sie würde es doch niemals dort hinaus schaffen.

Außerdem ist die „Clupea“ nicht mehr die Jüngste. Natürlich ist sie gut gebaut und immer gut behandelt worden. Aber sie ist eben trotzdem eine alte Dame. Was sie heute leistet, ist überwältigend. Ich schaue mir dieses Bild mit den 200 Menschen an Bord so oft an. Ich habe sogar versucht, die Personen zu zählen. Aber ich kann einfach nicht begreifen, wie dieses Schiff, von dem ich glaubte, jeden Millimeter zu kennen, so viele Menschen tragen kann. Es ist einfach verrückt, völlig bekloppt.

Europäisches Dilemma

Ich kann verstehen, warum die Rettungsaktivisten da draußen auf dem Mittelmeer sind. In meinen kühnsten Träumen kann ich mir nicht ausmalen, wie es ist, so viel Angst zu haben und alles aufzugeben. Dass du losläufst, in völlig überfüllte Schlauchboote steigst, mit kaum einer Chance auf Sicherheit oder irgendeine Zukunft. Ich glaube nicht, dass diese Menschen wirklich ihr Land verlassen wollen.

Man kommt da an einen Punkt, an dem man denkt: So kann es nicht weitergehen. Europa steckt in einem großen Dilemma, wenn es nicht bald die Probleme in den Herkunftsländern der Menschen anpackt. Aber niemand scheint bereit zu sein, das zu tun. Also wird es weiter so laufen wie bisher. Immer mehr Menschen werden sinnlos sterben, nicht nur auf dem Wasser. Es gibt auch andere Fluchtrouten.

Im Jahresrückblick der taz am wochenende menschelt es nicht, versprochen. Nach allzu menschlichen Weihnachtstagen haben wir uns den Dingen des Jahres zugewandt. Menschen sterben oder verlassen das Scheinwerferlicht, aus vermeintlichen Sensationen wird Alltag. Aber die Dinge des Jahres, die bleiben.

Inzwischen bin ich in Rente, der letzte wissenschaftliche Trip der „Clupea“ war auch mein letzter. Das war 2009, ich war 61 Jahre alt. Natürlich halte ich weiterhin nach meiner alten Dame Ausschau. Ich denke, jeder hat so einen sensiblen Punkt, eine Schwachstelle. Ich habe den Großteil meines Lebens auf dem Schiff verbracht. Sie ist wie eine alte Freundin für mich – und einer alten Freundin würde man doch nicht den Rücken kehren.

Von Buddelschiffen war ich schon als kleiner Junge fasziniert, kannte aber nur die klassischen Segelmodelle in Flaschen. Als ich in Rente ging, habe ich es mal mit einem modernen Schiff ausprobiert, natürlich mit der „Clupea“. Das Modell steht heute an Bord der „Alba Na Mara“, dem Nachfolgeschiff der alten Dame. Die alte Dame fährt also quasi immer noch mit auf Mission.

Protokoll: Leonie Ruhland

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