Psychologe der Angestellten

Am Mittwoch ist der Schriftsteller Wilhelm Genazino im Alter von 75 Jahren gestorben. Er wurde mit Romanen wie „Abschaffel“ und „Mittelmäßiges Heimweh“ bekannt

Seine Angestelltenromane hätten anfangs nicht in die Aufstiegsphase der Bundesrepublik gepasst

Von Martin Reeh

„Ich war lange Zeit Redakteur, aber auch als Redakteur ist man ja Angestellter“, hat Wilhelm Genazino einmal dem Bayerischen Rundfunk gesagt. „Man isst in einer Kantine, man lernt kennen, was eine Buchhaltung ist, man hat Kollegen.“

So kam Genazino, der schon mit 22 Jahren seinen ersten Roman „Laslinstraße“ veröffentlicht hatte, dann aber nicht wusste, über was er schreiben sollte, zu seinem Thema: Wilhelm Genazino war der Autor des deutschen Angestelltenromans.

Seine „Helden“ haben sich in ihrem Unglück eingerichtet. Oder ihrem Mittelmaß, was vielleicht etwas Ähnliches ist. „Schon meine Eltern waren mittelmäßig, meine Kindheit war mittelmäßig, außerdem meine Schulzeit, mein Abitur und mein Studium, aber seit dem letzten Anruf steuere ich auf das Mittelmäßigste zu, was es überhaupt gibt: auf eine Scheidung“, sagt sein Protagonist Dieter Rotmund in seinem Roman „Mittelmäßiges Heimweh“. Seine Frau Edith, die fernab von ihm im Schwarzwald wohnt, sucht das Glück in ihrer SPD-Ortsgruppe und einer außerehelichen Beziehung: „Zuerst wurde die Eifersucht mittelmäßig, jetzt auch das Heimweh.“

Genazino selbst wurde 1943 in Mannheim geboren. Seine Eltern waren arm, das habe seinen Blick geformt, sagte Genazino. Er habe „ein waches Bewusstsein bekommen, für alle, die etwas von sich hermachen wollen“. In den fünfziger Jahren seien das diejenigen gewesen, die sich „plötzlich einen VW leisten konnten und hinten dran einen Campinganhänger“. Genazino war zwar früh Redakteur, etwa in den siebziger Jahren beim Satiremagazin pardon, aber eigentlich ein Spätstarter. Das Abitur holte er mit Ende dreißig nach, danach studierte er. Was er „eine großartige Sache“ fand. „Wenn man sich in Germanistik mit Goethes Wahlverwandtschaften beschäftigt, dann sollte man mindestens vierzig Jahre alt sein, um dieses Buch überhaupt verstehen zu können.“ Man müsse in der Liebe „mindestens einmal furchtbar gescheitert sein“, um Goethe zu begreifen.

Bei Genazino kam das Unglück banal daher. In „Das Glück in glücksfernen Zeiten“ will Traudel, die Freundin des Protagonisten Gerhard Warlich, ein Kind: „Ich habe Angst vor der Zerstörung unseres jetzt so schönen Verhältnisses“, sagt Warlich. „Die Frauen wollen immer noch glücklicher werden, weil sie keine Ruhe geben, geht das real vorhandene Glück verloren.“ Warlichs Kinderpanik mündet in seine Entlassung im Job und psychischen Problemen. Schließlich weist ihn Traudel in die Psychiatrie ein, wo sich Warlich nicht unwohl fühlt.

„Im Grunde weiß ich bis heute nicht, wie man mit einem vertrauten Menschen einen ganzen Abend verbringt“, heißt es in „Die Liebesblödigkeit“. „Ich verberge meine Ratlosigkeit, indem ich mich dem von Sandra eingeführten Schema unterwerfe.“

Genazinos Protagonisten sind Männer zwischen dreißig und Mitte fünfzig, die in Frankfurt wohnen, ohne dass die Stadt namentlich erwähnt wird. Es ist nicht das Frankfurt aus „Bad Banks“ – das der koksenden Karrierebanker –, sondern eines der Mittelständler. Jobs, mit denen man sich nicht identifizieren kann, die aber gemacht werden wollen. Warlich wird nach einer Promotion über Heidegger Wäscheausfahrer, steigt zum Chef des Wäschereibetriebes auf. Dieter Rotmund ist Controller bei einer kleinen Pharmafirma.

Seine Angestelltenromane hätten anfangs nicht in die Aufstiegsphase der Bundesrepublik gepasst, sagte Genazino, weil sie zu deprimierend gewesen seien. „Jeder Angestellte ist ein privates Monstrum“, schrieb er einmal. Auch die üblichen Branchen­ehrungen für Genazino kamen spät: Den ­Georg-Büchner-Preis erhielt er 2004, siebzehn Jahre nachdem er mit der „Abschaffel“-Trilogie seine Angestelltenromane begonnen hatte. Sein letzter Roman „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“ erschien im Frühjahr 2018. Genazino schreibt „Romane, die schmal sind, meist ziemlich genau 150 Seiten haben“ und „zuverlässig alle zwei, drei Jahre erscheinen“, lobte die Zeit 2014.

Im Rentenalter, hatte er mit Mitte sechzig nur ironisch gesagt – schließlich gebe es kein Rentenalter für Schriftsteller –, wolle er sich mit der Aufarbeitung der Geschichte seiner Familie beschäftigen. Sie war schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus Italien eingewandert. Dazu wird es nicht mehr kommen: Am vergangenen Mittwoch ist Wilhelm Genazino nach kurzer Krankheit im Alter von 75 Jahren gestorben, wie der Hanser Verlag mitteilte.