Musik für eine Gesellschaft

Holger Hiller verwandelt sich in ein romantisches Telefon, das Publikum fordert Blumenhalter: ein herrlich spleeniges Konzert der Palais Schaumburg

Tanzmusik aus einer vergangenen Zukunft, Kult ohne Hysterie: Palais ­Schaumburg Foto: Miguel Ferraz

Von Kristof Schreuf

Nebelmaschinenschwaden wabern am Samstagabend zittrig über die ebenerdige Bühne der Halle K 6 des Kampnagel-Geländes. Aus der Anlage war eben noch Miles Davis zu hören. Für den jetzt beginnenden Auftritt der Gruppe Palais Schaumburg ist Davis von Thomas Fehlmann an der Trompete abgelöst worden. In der Mitte der Bühne steht, als wäre er aus einem Technik-Museum hergeschafft worden, ein Analog-Synthesizer.

Er sieht aus wie ein kleiner Souffleurkasten, auf den jemand aus Jux Knöpfe draufgeschraubt hat. Damit wirkt der KORG ms-20 wie eine putzige Erfindung Daniel Düsentriebs, des bekannten Ingenieurs aus Entenhausen.

Doch um 1980, als Palais Schaumburg das erste Mal an ihm rumspielten, stand dieser Souffleurkasten für das Versprechen, Musikern und ihrem Publikum die Zukunft zuflüstern zu können. Um sie zum Klingen zu bringen, brauchte es keinen nach Schweiß stinkenden Übungsraum mehr, die Küche eines Musikers genügte. Der eine ließ dort die Vergangenheit hinter sich, indem er den KORG anstellte, während sich der andere ein Brot schmierte oder Tee aufsetzte.

Mit dieser Versuchsanordnung gelang es Palais Schaumburg damals, mit vollem Anlauf aus sämtlichen stilistischen Schubladen herauszuspringen. Zum Ärger linientreuer Punks trugen sie Trachtenanzüge und Bäckerhosen, und zum Erstaunen des Rests der Welt komponierten sie freudigste Funkiness zu unfassbarsten Texten.

Als wäre das gestern passiert und nicht vor 40 Jahren, geht heute der Bassist Timo Blunck nach ein paar Stücken zu einem Mikrofon und sagt zum ehrfürchtig sitzenden Publikum: „Ihr könnt gerne näher kommen und tanzen.“ Blunck trägt heute Jeans und Anzugjacke wie ein Lehrer. Mit nach oben gebürsteter Brikett-Frisur, Brille, und seinen Bewegungen entwickelt er von Lied zu Lied mehr und mehr Ähnlichkeit mit Hellmut Hattler, dem bassspielenden Kollegen der Krautrockband Kraan. Bluncks Habitus passt zu den Stücken, welche Palais Schaumburg im Konzert um jamsessionhafte Passagen ergänzen und die mal an King Sunny Ade & His African Beats und mal an Holger Czukay erinnern.

Der Konzertgast erlebt ein aufschlussreiches Konzert. Er begreift etwa, dass der Sänger Holger Hiller für das, was er bei einem Auftritt tut, keine Persona entwickeln muss. Hiller muss sich im Gegenteil nicht im Geringsten verstellen, um ein Publikum zu erstaunen. Das gilt sowohl für Sätze wie „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm / Ich hab ihn gesehen und er war schön“ als auch für einen zwischen zwei Lieder eingestreuten autobiografischen Abriss.

Es ist nicht Teil einer ausgetüftelten Dramaturgie, wenn Hiller erzählt, dass er in Hamburg-Billbrook und später in Jenfeld mit seiner aus Rumänien stammenden Mutter aufgewachsen ist, die mit dem Leben in Deutschland nicht viel anfangen konnte und deshalb anfing, Gedichte zu schreiben. Ihr Sohn hat eins mit dem Titel „Hat Leben noch Sinn?“ mit Palais Schaumburg vertont. Holger Hiller ist eine eigene Welt mit einer eigenen Ästhetik.

Hiller sagt Sätze wie „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm / Ich hab ihn gesehen und er war schön“

Bluncks Aufforderung zum Tanz kommen ruckzuck sehr viele nach. Unter ihnen auch Musiker, für die Palais Schaumburg mindestens einen Grund lieferte, um selber Musik zu machen.

Während Ralf Hertwig am Schlagzeug Exaltiertheit in Form bringt, nimmt sich Holger Hiller heraus, sich in ein „romantisches, kleines Telefon“ zu verwandeln. Dabei kommt es zwischen Band und Publikum zu einem herrlich überkandidelten Call-and-Response-Part. Blunck und Hiller rufen „Telefon!“. Das Publikum erwidert immer lauter werdend: „Blumenhalter!“

Der Produzent und Musiker Tobias Levin kommentiert diesen Moment und das Konzert mit den Worten: „Musik für eine Gesellschaft.“ Beim Rausgehen treffen sich an der Garderobe eine junge Frau und ein junger Mann. Er: „Na, hast du deine neue Lieblingsband gesehen?“ Sie antwortet strahlend: „’türlich.“