Kommentar Nahost: Zeit zum Umdenken

Die gesamte palästinensische Führung steckt in der Vergangenheit fest. Sie lässt die Zivilbevölkerung leiden, statt den Konflikt zu beenden.

Fischer ziehen am Strand Netze ein

Gaza könnte ein schöner Küstenstreifen voller Menschen mit großen Ambitionen sein Foto: dpa

Seit die Hamas vor über einem Jahrzehnt die Kontrolle über den Gaza­streifen übernommen hat, verschlimmert sich kontinuierlich die dortige humanitäre Krise. Mehr als eine Million Palästinenser leben in erschütternder Armut. Die Arbeitslosenrate ist eine der höchsten weltweit. Ein UNO-Bericht prognostizierte schon 2012, dass der Gazastreifen bis zum Jahr 2020 unbewohnbar sein wird.

Schaut man sich die Indikatoren in diesem Bericht an, wird schnell klar, dass die Bevölkerung tatsächlich noch etwas schneller gewachsen ist, als in ihm angenommen wird. Weder die wirtschaftliche Entwicklung noch die grundlegende Versorgungsinfrastruktur wie Schulen oder Krankenhäuser konnten mit dem Bevölkerungswachstum Schritt halten. 2012 ging die UNO zudem davon aus, dass es zu einer deutlichen Erleichterung der Handelsbeschränkungen und damit zu Wirtschaftswachstum kommen würde. Tatsächlich aber ist das Pro-Kopf-Einkommen seither gesunken. Gleichzeitig blieben notwendige Investitionen im Bereich Gesundheit und Bildung aus.

In der Diskussion darüber, wie Palästinenser und Israelis mit der humanitären Krise umgehen, müssen wir zuallererst festhalten, dass die Hamas sich als bewaffnete Widerstandsbewegung betrachtet. Ihr ultimatives Ziel ist der Kampf gegen Israel und die Befreiung Jerusalems. Egal wie es um die humanitäre Lage im Gazastreifen bestellt ist, der Fokus bleibt auf dem einen großen Ziel.

Hamas geht davon aus, dass die Menschen im Gazastreifen geduldig zu sein hätten, weil der Preis für die Befreiung von der israelischen Besatzung eben hoch sei und jeder Palästinenser seinen Beitrag zu dem großen Kampf gegen Israel leisten solle – entweder mit Blut oder mit hoher Moral, das heißt: ohne zu klagen. Der Hamas zufolge werden alle Menschen, die Kriege erleiden, am Ende belohnt werden, entweder im Paradies oder noch in ihrem irdischen Leben – dadurch, dass sie Zeuge vom endgültigen Sieg über Israel werden.

Verelendung der Zivilbevölkerung ist allen egal

Die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), die von der Fatah in Ramallah dominiert wird, tut nichts für Gaza. Der Grund: Durch ihre Niederlage gegen die Hamas wurden die Würde und der Stolz ihrer Führung aus deren Sicht beschädigt. Darüber hinaus wurden Anhänger der Fatah in Gaza verfolgt. Die PA sieht keinen Grund, die sozialpolitischen Probleme der Hamas in Gaza zu lösen, und ist außerdem damit beschäftigt, die Sicherheitslage im Westjordanland zu stabilisieren – allein schon deshalb, um ein ähnliches Szenario wie bei dem Putsch der Hamas in Gaza zu verhindern.

Allerdings: Trotz der Strafmaßnahmen, die die Autonomiebehörde gegen die Hamas verhängt hat – sie hat unter anderem die Gehälter im öffentlichen Dienst im Gazastreifen um 50 Prozent gekürzt –, zahlt die PA noch immer teilweise für den Gesundheits- und den Bildungssektor. Die Strafmaßnahmen haben die wirtschaftliche Lage jedoch verschärft. Die Verringerung der Monatseinkommen der öffentlich Bediensteten im Gazastreifen wirkt sich negativ auf die Kaufkraft der Leute aus.

Als die Hamas die Kontrolle übernahm, hat Israel eine strenge Blockade verhängt und erklärte den Gazastreifen zum „feindlichen Gebilde“. Jeder Gazakrieg wird so gerechtfertigt: Israel kämpft gegen seine Feinde in Gaza und verteidigt sich gegen die Raketen der Hamas.

Der letzte Krieg hat keine Sicherheit für Israe­lis gebracht, stattdessen aber zu noch größerer Not der Zivilbevölkerung im Gazastreifen geführt. Die Hamas lässt sich von Israel nicht einschüchtern. Das Gegenteil ist der Fall: mehr Unterstützung aus dem Iran und aus Katar.

Klagen ist immer einfacher als zu handeln

Alle diese Konflikte treffen immer zuallererst die Zivilisten im Gazastreifen. Unglücklicherweise gibt es bis heute keine dauerhafte Lösung der politischen und humanitären Krise in Gaza. Die meisten Analysten rechnen damit, dass die Situation früher oder später explodieren wird.

Selbstreflexion ist nötig, um unsere Schwächen zu analysieren, anstatt der Welt ständig Vorwürfe zu machen

Was die Menschen in Gaza bräuchten, sind hope leaders, „Hoffnungsführer*innen“, die den Gazastreifen und das gesamte besetzte Gebiet in den Grenzen von 1967 zur Entwicklung und Friedensbildung führen, anstatt das palästinensische Volk in weitere blutige Konflikte zu verwickeln. Diese hope leaders könnten einen humanitären statt eines militärischen Hintergrunds haben, um eine Kultur des Lebens und des Friedens unter den Palästinensern voranzutreiben. Eine solche politische Führung müsste überzeugt davon sind, dass die Zeit gekommen ist, den Konflikt zu beenden. Sie müsste sich auf die Gründung eines unabhängigen palästinensischen Staates in den Grenzen von 1967 konzentrieren, und dann, so denke ich, wäre die Hälfte der palästinensischen Probleme gelöst.

Die bisherige palästinensischen Führung steckt in der Vergangenheit fest. Sie klagt, statt die ­aktuellen Möglichkeiten der Palästinenser in den Blick zu nehmen und rational und klug für die Zukunft zu planen. Ich bin überzeugt, dass die Zeit für ein Umdenken gekommen ist. Wir sind diejenigen, die den Schlüssel in der Hand halten, um unsere internen und externen Probleme zu lösen, statt das Ausland weiter um Unterstützung zu ­bitten. Eine kritische Selbstreflexion ist nötig, um unsere Schwächen zu analysieren, anstatt der Welt Vorwürfe zu machen, dass sie uns nicht hilft.

Wir müssen mehr über die Möglichkeiten der palästinensischen Zivilbevölkerung nachdenken, um die negativen Folgen des Konflikts abzuwenden und ihrem Wunsch zu entsprechen, frei und in Sicherheit an einem friedlichen Ort zu leben. Letztlich darf der Gazastreifen nicht als militärisches Labor für gescheiterte Kriege missbraucht und betrachtet werden, sondern kann als schöner Küstenstreifen am Mittelmeer gelten, voller Menschen mit großen Ambitionen und Hoffnungen auf ein Leben in Frieden und Freiheit.

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ist Journalistin und politische Analystin aus dem Gaza­streifen. Sie ist Politikwissenschaftlerin und schreibt für arabische und internationale Medien. Derzeit lebt sie mit einem Stipendium des „Auszeit-Programms“ der taz Panter Stiftung und von Reporter ohne Grenzen für drei Monate in Berlin.

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