Austauschprojekt im Namen Goethes: Lernen, Zuhören, Verstehen

Mit „Freiraum“ hat das Goethe-Institut eine Plattform geschaffen, um europaweit miteinander ins Gespräch zu kommen. Diese Woche in Berlin.

Der "Open Situation Room" mit einer Menge Interessierter

Fünf Tische, fünf Themen zum Zusammenkommen und sich besser verstehen im „Freiraum“ Foto: Laura Fiorio

Barbara Hendricks legt den Kopf schief und hört zu. Beata Kowalska aus Sarajevo erzählt der ehemaligen Umweltministerin, wie sehr die Luftverschmutzung in der Stadt ihr Leben beeinflusst. Oft könne man gar nicht das Haus verlassen. „Umweltschutz ist bei uns eine Frage von Leben und Tod“, sagt sie. Daraufhin berichtet eine Frau aus Athen, wo inzwischen fast das gesamte Stadtzentrum von ausländischen Inverstor*innen aufgekauft sei. Wer in Griechenland eine Immobilie im Wert von 250.000 Euro besitzt, bekommt eine Aufenthaltsgenehmigung für fünf Jahre – und somit Reisefreiheit im gesamten Schengenraum. Diese Regelung habe die ohnehin große Wohnungsnot in Athen noch einmal verschärft.

Die Gesprächsteilnehmer*-innen sitzen am Mittwochabend an einem Tisch in den Berliner Räumen der Stiftung Mercator. Es geht um die Frage, wie eine lebenswerte Stadt der Zukunft aussehen kann. Die Berichte aus anderen Städten Europas machen deutlich, dass Luftverschmutzung, steigende Mieten und die damit einhergehende Homogenisierung Europathemen sind. Initiiert hat die als „Open Situation Room“ betitelte Diskussionsveranstaltung das Goethe-Institut im Rahmen seines Projekts „Freiraum“.

Angesichts von Eurokrise, Brexit und dem Aufstieg der Rechten ist das Projekt ein Versuch, sich auf die Stärken Europas zu besinnen. Goethe-Partner aus rund 40 Städten Europas haben sich seit 2016 in Tandems mit der Frage beschäftigt, was Freiheit für sie bedeutet und wie sie bewahrt werden kann. Die Paare wurden ausgelost, die einzige Bedingung: Die jeweiligen Städte müssen mehr als 1.000 Kilometer voneinander entfernt sein.

Die Ergebnisse der Arbeit präsentiert das Goethe-Institut seit 2017, jetzt ist das Projekt in Berlin angekommen.

Ein großartiges Experiment

„Lernen, Zuhören, Verstehen“, das sind die Schlagwörter, die Johannes Ebert, Generalsekretär des Goethe-Instituts, in seiner Ansprache nennt. Er betont, wie wichtig es sei, als Europäer*innen zusammenzukommen und besser zu verstehen, wie die Menschen in anderen Teilen Europas leben. Der Open Situation Room sei hierfür ein großartiges Experiment.

Doch das von der Stiftung Mercator entwickelte Gesprächsformat ist gewöhnungsbedürftig. Fünf Gruppen sitzen an fünf nach Thema geordneten Tischen in einem großen Saal, es ist sehr laut und, Eberts Ansprache zum Trotz, oft schwer, sich gegenseitig zu verstehen. Zu Beginn der Diskussionen halten Expert*innen einen kurzen Vortrag zum Thema, auf vier Frauen kommen dabei elf männliche Experten. Die jeweils 50 Minuten Diskussionszeit vergehen sehr schnell. „Ich könnte noch stundenlang weiter diskutierten“, beschwert sich Sandy Kaltenborn von der Initiative Kotti &Co zwischendurch. Trotzdem ist es spannend zu sehen, mit welchen alltäglichen Problemen die Menschen in anderen europäischen Ländern zu kämpfen haben und welche Ideen sie mitbringen.

Zur ersten Gesprächsrunde sind mehrere Politiker*innen mit dabei. Bundestags-Vizepräsident Thomas Oppermann diskutiert über Meinungsfreiheit, der CSUler Thomas Erndl über Demokratie, Nationalismus und Populismus in Europa, und der FDPler Frank Müller-Rosentritt über Freiheit und ökonomische Ungleichheit.

Plädoyer für eine grünere Stadt

Barbara Hendricks hält an ihrem Tisch zunächst ein Plädoyer für eine grünere Stadt mit weniger Autos und mehr günstigen öffentlichen Verkehrsmitteln. „Deutschland hat noch nicht begriffen, dass die Zeit zum Wechsel jetzt ist“, sagt sie. Ein Vorbild sieht sie in Wien mit dem öffentlichen Nahverkehr, der den Bewohner*innen nur 365 Euro im Jahr kostet, und den günstigen Mieten, da viele Häuser der Stadt gehören. Aufgrund der Fehler, die in den letzten Jahrzehnten in der deutschen Wohnungspolitik gemacht wurden, hält sie das Wiener Modell in Deutschland allerdings für unerreichbar.

Dem widerspricht Sandy Kaltenborn. Es müsse natürlich das Ziel sein, auch in Berlin eine ähnliche Situation herbeizuführen. Bei den Diskursen um eine lebenswerte Stadt gehe es immer auch um Fragen der Macht und Teilhabe, fügt Kaltenborn hinzu. Als Beispiel nennt er das Projekt „Radbahn“, ein überdachter Fahrradweg quer durch Kreuzberg. An sich eine schöne Idee. Doch bei ihm am Kottbusser Tor könnten 70 Prozent seiner Nachbar*innen gar nicht Fahrrad fahren.

Am Nebentisch spricht der Lyriker und Autor von „Desintegriert euch“, Max Czollek, über Diversity und Integration. Deutschland brauche dringend einen „Reality-Check“, sagt Czollek. Das Land sei keineswegs die offene Nation, als die es sich darstellt. Das zeige schon das ständige Rufen nach Integration, ein Konzept, von dem Czollek sich generell verabschieden will. In der anschließenden Diskussion geht es darum, wie man am besten aus der eigenen Blase herauskommen kann. Es bräuchte eine Art politisches Tinder, schlägt ein Teilnehmer vor.

„Freiraum“ in Ausstellung

Zwei Berichte aus Brüssel und London zeigen, dass eine offene und diverse Gesellschaft zumindest innerhalb von Städten Realität sein kann. Statt auf Nationalitäten zu pochen, würden die Einwohner*innen dieser Städte sich eher als Brüsseler oder Londoner fühlen. „Es gibt einen Unterschied in der täglichen Kommunikation“, berichtet eine Frau von ihrem Leben in der britischen Hauptstadt. „Ich fühle mich normal.“ So kann Freiheit in Europa aussehen.

Noch bis Sonntag zeigt die Ausstellung zu „Freiraum“ im Zentrum für Kunst und Urbanistik die Ergebnisse der Städte-Tandems. Das Projekt soll bis Ende 2020 andauern, die nächsten Stationen sind Luxemburg, Dublin und Lyon.

„Freiraum“ in Berlin: ZK/U, Siemensstraße 27, bis 17. 3., 13–18 Uhr, Eintritt frei. Information: www.goethe.de/freiraum

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.