Themenschwerpunkt Syrien in Hamburg: Undurchdringlich bleibt die Wand

Drei Tage lang wirft Kampnagel mit Theater, Diskussion und Konzerten einen Blick auf die Situation syrischer Künstler*innen seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges.

Ein Mann kniet mit erhobenen Händen auf dem Boden, von links und rechts richten zwei Männer eine Waffe auf den Mann

Das Wohl der Mitarbeiter war dem französischen Lafarge-Konzern egal: Szene aus „The Factory“ Foto: David Baltzer

HAMBURG taz | Diese Betonwand bleibt vollkommen unbeschadet, nichts scheint ihr etwas anhaben zu können. Der Zement, mit dem sie gegossen wurde, steht für Stabilität, für etwas, auf das Verlass ist – das ist die Botschaft dieses Werbespots der ägyptischen Dependance des weltweit tätigen französischen Baustoff-Konzerns Lafarge: Ein Auto nebst Crashtest-Dummy rast auf die Wand zu, wird vorn komplett zerstört, der Dummy fliegt durch die zerborstene Scheibe gegen die Mauer und die Ingenieure überprüfen den Schaden. Jubel: kein Kratzer im Beton!

Auf eine Betonwand im Hintergrund der Bühne projiziert wird dieser kurze Clip in den ersten Minuten des Theaterstücks „The Factory“ des syrischen Dramatikers und Essayisten Mohammad Al Attar und des syrischen Regisseurs Omar Abusaada.

Im Herbst vergangenen Jahres feierte die eindringliche Mischung aus Doku-Theater und Poesie als Auftragswerk auf der Ruhrtriennale Premiere. In Hamburg ist das Stück – auf Arabisch, mit deutscher und englischer Übertitelung – nun im Rahmen des dreitägigen Kampnagel-Schwerpunkts „Syrische Situation“ zu sehen, der seit Donnerstag aus Anlass des Jahrestages des Beginns des Arabischen Frühlings in Syrien die aktuelle Situation des Landes, aber auch die Situation geflüchteter Syrer*innen in den Blick nimmt.

Am Ende von „The Factory“ steht der syrische Arbeiter Ahmad vor einer runden Betonmauer. Ein Bunker könnte diese dreiteilige Struktur sein, vorher diente sie, in immer neuen Zusammensetzungen, als Tor oder Mauer jenes riesigen Lafarge-Zementwerks im Norden Syriens, in dem Ahmad gearbeitet hat. Unweit der Grenze zur Türkei liegt es, in der Nähe der Stadt Manbidsch. 2010 hat die syrische Filiale des Konzerns das Werk für 680 Millionen Euro bauen lassen: die größte Baustoff-Fabrik des Landes.

Ein paar Löcher, vielleicht von Einschüssen, sind im Beton zu sehen. Aber immer noch steht die Mauer da, unüberwindbar: ein Monument, das die Wirren der Zeit übersteht. Das war der ausdrückliche Plan des Konzerns: Dass die Fabrik den syrischen Bürgerkrieg unbeschadet übersteht, um beim Wiederaufbau des Landes an vorderster Front mitmischen zu können.

Theater über den Lafarge-Skandal

Wie Lafarge das geschafft hat, ist ein Skandal: Im Juni 2016 erst wurde durch Recherchen der französischen Journalistin Dorothée Myriam Kellou bekannt, dass der Konzern millionenschwere finanzielle Arrangements mit Kriegsparteien eingegangen war, um die Fabrik während des Krieges weiter betreiben zu können. Lafarge behauptet, all das getan zu haben, um die Mitarbeiter*innen zu schützen. Erst floss Geld an die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG), später an die islamistische Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS).

Im Frühling vergangenen Jahres hat Lafarge zugegeben: Rund fünf Millionen US-Dollar hat der Konzern seit 2011 an bewaffnete Gruppen gezahlt. Gegen sechs leitende Angestellte wird nun seit 2018 wegen Finanzierung des Terrorismus und Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt. Ein Meilenstein, betont die französische Menschenrechtsorganisation Sherpa: Erstmals wird wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen ein Unternehmen ermittelt.

2014 besetzte der IS das Werk schließlich doch. Die letzten Arbeiter*innen konnten gerade noch rechtzeitig mit den letzten verbliebenen Autos flüchten. Heute befindet sich auf dem Gelände ein US-Militärstützpunkt. Das Gebäude ist immer noch unbeschadet.

„The Factory“ erzählt die Geschichte des Zementwerks aus vier ganz unterschiedlichen Perspektiven, ausgehend von den unbestrittenen Fakten, aber auch mit fiktiven Elementen: Auf der Bühne stehen der Arbeiter Ahmad und die algerisch-französische Journalistin Mar­yam, deren Recherchen nach einer E-Mail Ahmads die Verstrickungen des Konzerns aufgedeckt haben; außerdem der syrische Geschäftsmann Firas, der zu Beginn noch Anteile an der Fabrik hielt, sowie der syrisch-kanadische Unternehmer Amr, der als Berater enge Beziehungen zum Konzern hatte.

Überschneidung von Perspektiven

Al Attar und Abusaada erzählen die Geschichte als Überschneidung sich ergänzender, aber eben auch sich widersprechender Perspektiven auf die Wahrheit. Während die beiden Unternehmer und die Journalistin dabei im Verlauf des Stückes immer mehr zu Karikaturen manipulativer Macht-trunkener werden, die für die moralische Verwerflichkeit der Protagonist*innen des Skandals stehen, kommt dem Arbeiter Ahmad die ungebrochene Rolle des Opfers zu.

Mit ihm und seiner Geschichte, die mit der Flucht der Familie in die Türkei endet, beziehen Al Attar und Abusaada Stellung, rücken die menschliche Dimension in den Fokus – und verlieren die politische zunehmend aus den Augen. Nicht um klassisches Doku-Theater geht es ihnen offensichtlich, sondern um die Betonung des subjektiven Erlebens von Menschen, die anderen nur als Spielball dienen.

Das ist es auch, was Kurator Anas Aboura, der auf Kampnagel das Projekt „Migrantpolitan“ bespielt und die nicht nur bei arabischen Geflüchteten erfolgreichen Konzert- und Partyreihen „Oriental Karaoke“ und „Dub-ke“ organisiert, mit seinem Mini-Festival in den Blick rücken will: Nicht die komplexe und auch in der syrischen Exil-Community höchst umstrittene politische und auch soziale Situation in ihrer Gänze abbilden soll der Schwerpunkt mit „The Factory“, drei Konzerten und einer Podiumsdiskussion, die bereits am Freitag stattfand. Sondern eben die Erfahrung konkreter Menschen in den Blick nehmen.

Sa, 16. 3., Kampnagel; „The Factory“: 19.30 Uhr; Konzert von Abo Gabi und Shkoon: 22 Uhr

„Wir versuchen, unter die Oberfläche des politischen Konflikts zu stoßen, um die menschliche Dimension syrischer Künstler*innen zu reflektieren“, sagt Aboura. „Wie sind sie betroffen, welche Auswirkungen haben die Folgen des Arabischen Frühlings auf ihre Situation?“

Im nächsten Jahr soll der Themenschwerpunkt wieder stattfinden, und zwar in einem größeren Rahmen. Und mit einem beeindruckenden Projekt, das diesmal noch nicht realisiert werden konnte und den Arabischen Frühling auch für Nicht-Syrer am eigenen Körper erlebbar machen soll: Geplant ist eine große immersive Installation des Suq al-Hamidiya, also des berühmtesten Basars in Damaskus. Denn dort fanden im März 2011 die ersten Proteste gegen das Regime von Baschar al-Assad statt.

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