Macrons Bürgerdialog: Wir müssen reden, Chérie

In diesen Tagen diskutieren Menschen in ganz Frankreich über die politische Zukunft des Landes. Nicht immer geht es dabei um die „großen“ Fragen.

Macron, Merkel, Tusk und Laschet klatschend nach der Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrags in Aachen, Januar 2019

Retter in der Not? Macron (links) will Europa bewahren. Gern mit Deutschland zusammen Foto: Martin Meissner/ap

PONT DE L'ARCHE/PARIS taz | Pont de l'Arche ist ein historisches Städtchen mit 4.200 Einwohnern am Lauf der Seine und der Eure in der Normandie. Gegenüber dem Rathaus treffen am späten Nachmittag die DiskussionsteilnehmerInnen ein. Die meisten kennen sich, auch die zwei Gendarmen in Uniform, die als Ordnungsdienst angefordert worden sind, werden mit Handschlag begrüßt.

Die Debatte beginnt in nach vier Themen aufgeteilten Gruppen mit je 15 bis 20 Personen. Sie stellen sich mit ihren Vornamen vor, die meisten sagen auch, warum sie hier sind. In der Gruppe „Bürger in der Demokratie“ sind mehr als die Hälfte der Teilnehmer bereits in Rente, mehrere sind in lokalen Vereinen aktiv. Schnell wird klar, dass viele vor allem das Bedürfnis verspüren, mit anderen zu reden.

Frankreich streitet zuerst und diskutiert anschließend. In vielen Städten und Dörfern werden derzeit im Rahmen einer von Präsident Emmanuel Macron angeordneten „Großen Nationalen Debatte“ lokale Diskussionsrunden organisiert – insgesamt sind es mehr als 8.000.

Ende März soll alles zusammengefasst und im April ausgewertet werden. Niemand weiß, was am Ende von den Vorschlägen, Forderungen, Beschwerden oder Ratschlägen tatsächlich berücksichtigt wird.

„Sonst wird es erst recht krachen“

Die Regierung feiert aufgrund der starken Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen bereits einen „enormen Erfolg der partizipativen Demokratie“. Sie hofft, dass derweil der Bewegung der Gelbwesten, die mit ihren Protesten seit mehr als drei Monaten Grund und Auslöser dieses landesweiten Palavers ist, die Luft ausgeht.

Richard Jacquet ist seit zehn Jahren Bürgermeister von Pont de l'Arche. Er mag nicht verhehlen, dass er hinsichtlich der konkreten Resultate nicht sehr optimistisch ist: „Ich bin nicht für einen Boykott der Debatte, aber falls es als Resultat nur ein paar kosmetische Verbesserungen geben sollte, wird es erst recht krachen.“

Richard Jacquet, Bürgermeister

„Die Erwartungen sind groß, die Wünsche vielleicht sogar unerfüllbar“

Wenn heute überhaupt in diesem breiten Ausmaß debattiert werden darf, dann sei dies weniger das Verdienst eines Staatschefs, der besonders auf die Volksmeinung hört, sondern eine Folge der Gelbwesten-Bewegung. Seit Jahren kürze der Zentralstaat die finanziellen Zuwendungen an die Kommunen und trage zur Verschlimmerung der Probleme bei. Als „Maire“ befinde er sich selber stets „zwischen Hammer und Amboss“.

Das Verdienst der Gelbwesten

An der Debatte im kommunalen Saal wollte er selber nur als stiller Beobachter teilnehmen. „Die Erwartungen sind groß, die Wünsche vielleicht sogar unerfüllbar“, meint Jacquet bekümmert. „Wie bei der Kunst oder dem Theater denken im Voraus viele Leute resigniert, das sei ohnehin nicht für sie.“

Die Diskussion beginnt. „Das große Verdienst der Gelbwesten ist es, dass sie das Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit auf die Probleme vieler Mitbürger gelenkt haben. Aber jetzt dürfen wir nicht das Kind mit dem Bad ausschütten“, warnt Albert, der ein Heim für mehrfach verurteilte Jugendliche leitet und ursprünglich aus dem Kongo stammt.

„Ich habe als Kind in einer Diktatur gelebt, eine Bewegung wie die Gelbwesten wäre dort in zwei Tagen unterdrückt worden. Mir gefällt es gar nicht, wie die Gelbwesten den Präsidenten oder Polizisten attackieren“, präzisiert er zum Thema Gewalt bei den Demonstrationen.

„Die Regierung hat doch bloß Verachtung für das Volk“, entgegnet ihm die Hilfspflegerin Zora. Sie unterstützt die Gelbwesten aktiv. „Ich habe mich mehrmals an den Blockade-Aktionen auf den Kreiseln beteiligt. Als dann Rechtsextreme gekommen sind und sich einmischen wollten, hat mich das wie andere total angewidert.“ Sie möchte, dass die Debatte zu einer Annäherung der Bewohner mit verschiedener Herkunft und sozialer Stellung führt.

Neue Perspektive der Basisdemokratie

„Wir werden von einer kleinen Minderheit regiert“, meint der Rentner Guy Paul, der angibt, er habe sich bereits schriftlich „mit fünf Seiten“ an der nationalen Debatte beteiligt. Vorher sei er während 25 Jahren im öffentlichen Dienst gewerkschaftlich aktiv gewesen.

„Ich schäme mich ein wenig dafür, dass wir die Gelbwesten ziemlich im Stich gelassen haben. Wir Rentner sollten uns stärker mobilisieren. Wir können ein Beispiel geben und dazu beitragen, dass es nicht zu Gewalt kommt. An die Wahlen glaube ich nicht mehr, ich setzte mehr auf die Solidarität und direkte, friedliche Aktionen.“

Guy Paul, Rentner

„Ich schäme mich ein wenig dafür, dass wir die Gelbwesten ziemlich im Stich gelassen haben. Wir Rentner sollten uns stärker mobilisieren“

Dass in derselben Runde Eric vor allem die Bedeutung der Erziehung der SchülerInnen zu „aktiven und verantwortungsvollen Gesellschaftsmitgliedern“ betont, ist nicht erstaunlich, denn er leitet die gegenüber liegende Grundschule. „Ja, den Kindern muss im Schulzimmer erklärt werden, wozu die Steuern dienen, und dass diese nicht eine Strafe sind, sondern zum Beispiel der Anschaffung der Stühle dienen, auf denen die Kinder sitzen.

Es brauche aber auch staatsbürgerliche Programme über Europa, ergänzt voller pro-europäischem Enthusiasmus der grauhaarige Gilbert. Die Gelbwesten hätten für ihn eine neue Perspektive der Basisdemokratie eröffnet: „Wir wollen nicht ins alte Schema zurückfallen, wo die Chefs in Paris sagen, was wir tun sollen.“

Für Frauen noch schwerer zu ertragen

Nicht alle sind so gesprächig wie die Ex-Gewerkschafter Guy oder Gilbert. Schweigsam ist zunächst auch eine rothaarige Frau, die alle Blicke auf sich zieht, als sie sich zu den Versammelten setzt. Pont de l'Arche ist der Wohnort von Ingrid Levavasseur Die 31-jährige Krankenpflegerin ist eine landesweit bekannte Exponentin der Gelbwesten.

Ihre plötzliche Bekanntheit hat ihr nicht nur Anerkennung eingebracht. Als sie im Januar eine Liste der Gelbwesten für die kommenden EU-Wahlen ankündigte, hagelte es Beschimpfungen. Später am Abend verrät sie, mit anderen aus den Reihen der Gelbwesten eine Partei gründen zu wollen.

Bei einer Demonstration im Februar wurde sie in Paris von Gegnern in gelben Westen in äußerst grober Weise sexistisch beschimpft und bedroht. Einschüchtern lässt sie sich deswegen nicht. „Bei meinen Hausbesuchen habe ich gesehen, in welcher Misere viele Leute leben. Für die Frauen sind diese prekären Bedingungen meistens noch schwerer zu ertragen, und oft haben sie noch weniger Möglichkeiten, sich zu äußern.“

Viel guter Wille und der Wunsch, bei der Staatsführung konkrete Verbesserungen durchzusetzen, ist auch in den anderen Gruppen zu hören. In der Runde mit dem Thema „Ökologie und Energiewandel“ wird vorgeschlagen, in den Schulkantinen vegetarische Menüs zu fördern.

„Reden macht nicht satt“

Eine weiteres Thema ist der häufig lange Weg zur Arbeit. Die Eisenbahngesellschaft SNCF wollte zum Jahresende den Bahnhof von Pont de l'Arche schließen. Aufgrund der starken Proteste bekommt der Anschluss jetzt eine dreijährige Gnadenfrist.

In der Gruppe „Steuern und öffentliche Ausgaben“ wird mehr Transparenz bei den staatlichen Ausgaben, eine Senkung der Mehrwertsteuer auf Produkte des täglichen Konsums sowie eine Besteuerung von Internetkonzernen gefordert und über eine Kompensationsabgabe für Landsleute mit Wohnsitz im Ausland diskutiert.

Doch was bleibt am Ende dieses einzigartigen Bürgerdialogs? „Wegen der thematisch eingeschränkten Art, wie diese Debatte von Macron organisiert wurde, bin ich sehr besorgt. Auf diese Art wird da nicht viel herauskommen. Reden allein macht nicht satt“, meint der Gewerkschaftssenior Guy. Er scheint mit seiner Skepsis nicht allein zu sein.

Die „sehr-viel-Steuer“-Zahler

An den demokratischen Nutzen des direkten Dialogs unter den Bürgern glaubt hingegen der Filmemacher Eric Rochant. Als einer der ganz wenigen Kulturschaffenden hatte er im Rathaus des 14. Arrondissements von Paris eine Debatte initiiert. Sein Motiv: „Wir richten uns an alle, die handeln wollen, weil die Bewegung der Gelbwesten eine echte Malaise zum Ausdruck bringt.“

Eric Rochant, Filmemacher

„Wir richten uns an alle, die handeln wollen, weil die Bewegung der Gelbwesten eine echte Malaise zum Ausdruck bringt“

Schnell wird beim Meinungsaustausch im prunkvollen Saal deutlich, dass es hier im Unterschied zur Veranstaltung in der ländlichen Normandie weniger um Alltagssorgen geht, sondern um Fiskalpolitik und technische Lösungsvorschläge. Diese Diskussionsteilnehmer kennen sich nicht, sie stellen sich weder mit Namen noch Beruf vor, geben aber oft stolz an, dass sie „sehr viel Steuern bezahlen“.

Colette, die immerhin ihren Vornamen nennt, schlägt vor, dass auch die Haushalte, die heute von der Einkommenssteuer befreit sind, als Zeichen der Anerkennung als vollwertige Staatsbürger einen minimalen und symbolischen Beitrag leisten sollten.

Echte Mitbestimmung

Ein im Saal anwesender Beamter der Steuerbehörde gibt zu bedenken, das komme allein schon wegen der Kosten nicht infrage. Von den Gelbwesten spricht niemand.

Am Ende der Veranstaltung ist Rochant mit dem Verlauf nicht sehr zufrieden: „Man könnte ja meinen, dass wir hier sind wegen der Gewalt bei den Demonstrationen. Das stimmt nicht. Wir sind hier wegen der Umfragen, die belegen, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung die Gelbwesten unterstützt.

Deswegen hat die Regierung diese Debatte organisiert. Und ich glaube aufrichtig, dass sie alle Meinungsäußerungen berücksichtigen wird. Sollte dies nicht der Fall sein, hätten wir allen Grund, uns zu empören.“

Draußen vor der Tür setzen einige Teilnehmer ihre Diskussion fort. Mit der „Großen Nationalen Debatte“ hat die Regierung zwar auf Kosten der auf sofortiges Handeln drängenden Gelbwesten Zeit gewonnen. Zugleich aber ist damit die langfristige Nachfrage nach einer echten Mitbestimmung gestiegen.

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