Der Mord und sein Motiv

Der Attentäter von Christchurch macht aus seiner Gedankenwelt keinen Hehl: Brenton Tarrant sieht sich als Kämpfer gegen den „großen Austausch“ – und knüpft damit an eine weltweit verbreitete rechtsextreme Ideologie an

Christchurch am Sonntag: Neuseeländer trauern um ihre muslimischen Mitbürger, erschosen von einem 28-jährigen Australier Foto: Jorge Silva/reuters

Von Urs Wälterlin, Canberra,
und Konrad Litschko, Berlin

Der vorerst letzte Auftritt von Brenton Tarrant findet am Samstag statt, vor Gericht. Und wieder macht der 28-Jährige aus seiner Gesinnung keinen Hehl. Mit seiner rechter Hand hat er Daumen und Zeigefinger aufeinandergelegt, die anderen Finger nach unten gespreizt. Eine Geste, die sich Rechtsextreme zu eigen gemacht haben.

Tags zuvor war der Australier in die Masjid-al-Noor-Moschee im neuseeländischen Christchurch gestürmt und hatte dort mehr als 40 Menschen erschossen. Dann fuhr er in eine fünf Kilometer entfernte Moschee, erschoss dort ebenfalls Besucher. Am Ende waren 50 Menschen tot. Die Tat übertrug Tarrant live ins Internet. Nun beschuldigt das Gericht ihn offiziell des Mordes. Tarrant schweigt dazu.

Schon kurz vor der Tat aber hatte er an seinem Motiv keinen Zweifel gelassen. Auf seinen Onlineprofilen veröffentlichte Tarrant eine Art Manifest, 74 Seiten lang. Sein Attentat bezeichnet er darin als rassistisch und islamophob, er selbst sei ein „Ökofaschist“. Er wolle die weiße Rasse retten.

Ein rechtsextremer Terroranschlag also.

Nach Angaben von Neuseelands Premierministerin Jacinda Ardern war Tarrant den Sicherheitsbehörden zuvor nicht als Extremist aufgefallen. Dabei war der Australier offenbar seit Jahren in der extrem rechten Szene aktiv. Sein „Manifest“ jedenfalls verortet ihn genau dort: Es bildet fast prototypisch diejenige Ideologie ab, mit der Rechtsextreme und Neurechte momentan weltweit hantieren – auch in Deutschland.

Schon der Titel weist den Weg: „The Great Replacement“, „Der große Austausch“. Es ist das Leit- und Angstmotiv der rechtsextremen Identitären. Unter diesem Titel veröffentlichte deren französischer Vordenker Renaud Camus eines seiner Werke. Gemeint ist eine angeblich gezielte massenhafte Einwanderung von Muslimen in „weiße“ Nationen, um deren einheimische Bevölkerungen zu marginalisieren.

In den USA warnen Rassisten schon seit vielen Jahren vor einem „Genozid an den Weißen“ durch Zuwanderer. Auch in Australien, Tarrants Heimat, gedeiht ein extrem rechtes Spektrum, das die angebliche Überlegenheit der weißen Zivilisation verbreitet.

In Deutschland ist es wiederum die NPD, die seit Langem den „Volkstod“ fürchtet. In letzter Zeit nahm aber auch die AfD dieses Motiv auf. Parteichef Alexander Gauland warf der Regierung eine Migrationspolitik vor, die das „Volk völlig umkrempelt“. Sie sorge dafür, dass „nur noch irgendeine uns fremde Bevölkerung hier lebt“.

Brenton Tarrant ist von diesem Wahnbild beherrscht und lädt es in seinem „Manifest“ mit wüsten Gewaltaufrufen terroristisch auf. Auch er schreibt von einer „Masseneinwanderung“, von einer muslimischen „Invasion“ und „Besetzung“. Die „Invasoren“ gehörten deshalb bekämpft und deportiert, sonst drohe ein „Genozid an den Weißen“. Als Ziel bedient Tarrant eine bekannte rechtsextreme Chiffre, die „14 Words“: „Wir müssen die Existenz unseres Volkes und eine Zukunft für weiße Kinder sicherstellen.“

Als seinen Vordenker benennt Tarrant Oswald Mosley, den Gründer der British Union of Fascists. Auch Mosley predigte Abschottung, seine Anhänger ließ er in schwarzer Uniform aufmarschieren. Tarrant bekennt sich auch zu Donald Trump, den er zwar als „Führer“ ablehne, aber als ein „Symbol für eine erneute weiße Identität“ unterstütze. Der 28-Jährige selbst sieht sich als „Partisan“ gegen die „Überfremdung“. „Gewalt ist der einzige Weg zur Macht“, schreibt er. Eines Tages werde man ihn für seine Tat auszeichnen.

Vieles davon erinnert an ein anderes „Manifest“: das von Anders Breivik. Der Rechtsextremist tötete 2011 in Norwegen 77 Menschen. Und auch er schwadronierte von einer „islamischen Kolonisation Europas“, von der Absicht, die Europäer zu „versklaven“, und einer „demografischen Kriegführung“. Tarrant behauptet nun, Kontakt zu Breivik gehabt und dessen „Segen“ für das Attentat in Neuseeland eingeholt zu haben.

Die Taten in Neuseeland und Norwegen stehen indes nicht allein. Schon 2017 erschoss ein Rechtsextremist in einem muslimischen Kulturzentrum im kanadischen Québec sechs Menschen. In London tötete im selben Jahr ein Mann nahe einer Moschee einen Menschen und verletzte zehn weitere – als Motiv gab er Hass auf den Islam an. Und im italienischen Macerata schoss 2018 ein Rechtsextremist aus seinem Auto auf Migranten und verletzte sechs von ihnen. Alle drei Attentäter lobt Tarrant in seinem Manifest, die Namen von zweien schreibt er auf seine Gewehre, mit denen er in Christchurch tötet.

„Ich denke, nicht wirklich. Ich denke, es handelt sich wohl um eine kleine Gruppe von Menschen, die sehr, sehr ernsthafte Probleme haben. Wenn Sie sich ansehen, was in Neuseeland passiert ist, dann ist das vielleicht der Fall. Ich weiß noch nicht genug darüber. Aber es ist sicher eine furchtbare Sache.“

US-Präsident Donald Trump auf die Frage, ob weißer Nationalismus weltweit eine wachsende Bedrohung darstellt.

„Unfassbare Tat! Den Angehörigen und Verletzten gilt mein Beileid. Der Täter von #Christchurch‘ Neuseeland rechtfertigt seine Tat mit Überbevölkerung und Klimaschutz. Die Klimapanikverbreiter tragen Mitverantwortung für diese Entwicklung #Greta Thunberg“

Tweet des Berliner AfD-Landtagsabgeordneten Harald Laatsch

„Tötung in Neuseeland: Auge um Auge“

Tweet von Catherine Blein, Abgeordnete des Regionalparlaments der Bretagne in Frankreich (taz)

Auch Deutschland ist nicht gegen antimuslimischen Terror gefeit. So verübte 2016 ein früherer Pegida-Redner einen Sprengstoffanschlag auf eine Dresdner Moschee, verletzt wurde aber niemand. Schon ein Jahr zuvor sinnierte die rechtsterroristische „Oldschool Society“ über einen „bewaffneten Kampf gegen Salafisten“. „Waffen besorgen, Moschee reinrennen, bambam, fertig“, schlug deren Präsident vor. Bevor es dazu kam, nahm die Polizei die Gruppe hoch.

Die Taten zeigen, dass Rechtsterrorismus längst global verbreitet ist – und wie gut vernetzt seine Anhänger sind. So schrieb Tarrant etwa auf dem Onlineportal „8chan“. Immer wieder schaukeln sich dort extrem Rechte aus aller Welt gegenseitig hoch, äußern Gewaltfantasien. Tarrant soll sich dort schon 2011 als „Monster der Willenskraft“ bezeichnet haben. „Ich brauche nur ein Ziel.“ Vor seinem Massaker schrieb er auf „8chan“, es sei nun Schluss mit „shitposting“ und Zeit für eine Tat in der „realen Welt“. Auf seiner gefilmten Autofahrt zum Attentat hörte er ein Lied serbischer Nationalisten, eine Huldigung an Radovan Karadžić, der ethnische Säuberungen veranlasste. Ebendieses Lied kursiert auf „8chan“ und anderswo.

In Europa will der Täter seinen Entschluss zum Mord gefasst haben

Tarrant reiste offenbar länger durch Europa – wo er laut Sicherheitsbehörden auch Rechtsex­treme getroffen haben soll. In Serbien, Bulgarien und Bosnien-Herzegowina sei er gewesen. Tarrant selbst schreibt von Aufenthalten in Westeuropa. 2017 sei er in Frankreich gewesen, dort sei sein Entschluss zum Anschlag gefallen, als er die dortige „Invasion“ von Migranten erlebt habe. Warum tue niemand etwas dagegen, habe er sich gefragt. „Dann beschloss ich, selbst etwas zu tun.“

Im australischen Gosford, wo Tarrant aufwuchs, herrschte am Wochenende ungläubiges Entsetzen. Der mutmaßliche Massenmörder war dort in einer Arbeiterfamilie groß geworden. Er sei ein unauffälliger und angenehmer Mitschüler gewesen, sagten ehemalige Klassenkameraden dem australischen Fernsehen. Später arbeitete Tarrant als Fitnesstrainer.

Aber auch in Tarrants Heimat Australien sind extrem Rechte auf dem Vormarsch. Kurz nach dem Attentat von Christchurch schrieb der australische Senator Fraser Anning: „Die wirkliche Ursache des Blutbads in den Straßen von Neuseeland ist das Immigrationsprogramm, das es muslimischen Fanatikern erlaubt, überhaupt einzuwandern.“ Und: „Sagen wir es klar: Muslime mögen heute die Opfer gewesen sein, sonst sind sie die Täter.“

Die Ausführungen wurden zwar postwendend von Premierminister Scott Morrison und seinem Vorgänger Malcolm Turnball verurteilt. Anning sei eine „Schande für den Senat und, was noch schlimmer ist, mit dem Verbreiten von Hass tut er genau das, was die Terroristen wollen“. Doch Fraser Anning ist nicht allein mit seiner Meinung.

Anning steht auf der extremen rechten Seite eines breiten Spektrums, in dem in Australien Rassenhass, Islamophobie, Widerstand gegen Einwanderung zelebriert oder toleriert werden. Für Beobachter ist Tarrants Attacke die logische Konsequenz einer weit verbreiteten Toleranz gegenüber rechtsextremen Ideologien und Propaganda in Politik und Medien.

Der ehemalige unabhängige Abgeordnete Tony Windsor kritisiert die Regierung: „Ihre Hundepfeifenpolitik von Rasse, Religion und Spaltung hat Früchte getragen, Scott Morrison.“ Hundepfeifenpolitik – auf Englisch „Dog Whistling“ – hat sich in den letzten Jahren in Australien etabliert. Politiker streuen Informationen oder Meinungen, die zwar nicht offen rassistisch sind, die aber von jenen, die sie so verstehen wollen, als solche interpretiert werden können. Etwa die Aussage des früheren Premiers John Howard, dass Einwanderung aus Asien ein Problem sei und „reduziert“ werden müsse. Oder die Darstellung von Asylsuchenden als „illegale Immigranten“, obwohl jeder Mensch das Recht hat, um Asyl zu bitten. Oder die Bemerkung des namentlich nicht genannten Parlamentariers, der den Posten des Ministers für ­Aborigine-Ureinwohner mit dem Job eines „Toilettenreinigers auf der ‚Titanic‘ “ verglich. Oder die Worte des Einwanderungsministers Peter Dutton, der vor „Horden schwarzer Jugendlicher“ in Melbourne warnt und statt ihrer „verfolgte weiße Farmer aus Südafrika“ ins Land holen will. Australien gilt zwar als eines der erfolgreichsten multikulturellen Länder der Welt. Seine Geschichte steht aber auf einem harten Fundament einer tief verwurzelten Furcht vor dem „Andern“.

Von der Besiedlung des Kontinents ab 1788 durch britische Strafgefangene und Kolonialisten, dem missglückten Versuch des Völkermordes an den Ureinwohnern, der Gewalt gegen chinesische Einwanderer Mitte des 19. Jahrhunderts über die Politik eines „Weißen Australien“, die erst 1973 beendet wurde, bis hin zu der inhumanen Asylpolitik, unter der sogar Kinder von Bootsflüchtlingen jahrelang in Internierungslagern eingesperrt werden: Polemik und Hetze gegen Menschen nichteuropäischer Abstammung gehören bis heute zum Alltag.

Brenton Tarrant am Samstag vor dem Bezirksgericht von Christchurch. Hier wird er des Mordes beschuldigt. Er bleibt in Haft. Foto: reuters

Nach einer Phase relativer Toleranz gegenüber ethnischen Unterschieden in den 80er und 90er Jahren öffnete 1996 der konservative John ­Howard „den Deckel der Dose mit den Würmern des Rassismus“, wie ein Kommentator es ausdrückte. Er wollte dem „Übel“ der „politischen Korrektheit“ ein Ende setzen, sagte Howard damals.

Bald hatte Howard Konkurrenz: Die Abgeordnete Pauline Hanson, wegen rassistischer Sprüche aus der konservativen Partei geworfen, wurde mit ihrer Behauptung, Australien werde „von Asia­ten überflutet“, über Nacht zur Heldin von Lehnstuhlrassisten.

Es ist dieses Gedankengut, das Brenton Tarrant nun aufgreift – und in den Terror führt. Dass es Neuseeland traf, sei Zufall, schreibt der 28-Jährige. Er habe hier nur vorübergehend gelebt. Aber die Entwicklung in Neuseeland sei die gleiche wie überall im Westen.

Nur wenige Tage vor der Tat teilte Tarrant im Internet auch Artikel über rechtsextreme Soldaten in der deutschen Bundeswehr. Auch in seinem „Manifest“ erwähnt er Deutschland. Tarrant geißelt die Ereignisse der Kölner Silvesternacht 2015. Und er benennt als einen seiner größten Feinde Bundeskanzlerin Angela Merkel: Wenige hätten mehr dafür getan, Europas Bevölkerung „rassisch auszulöschen“, schreibt Tarrant. Merkel stehe „ganz oben auf der Liste“ derjenigen, die ermordet gehörten.

Derweil bereitete sich Brenton Tarrant auf seinen Auftritt in Christchurch vor. Es wäre gut, wenn er bei seiner Tat nicht erschossen würde, erklärt er in seinem „Manifest“. Dann könne er auch noch den Prozess gegen sich nutzen, um seine „Ideale“ zu verbreiten.