Die Wahrheit: Mit Ringo Starr im Wurmloch

Im Jahr 1969 hat die zwölfjährige Theresa Mary Brasier einen Albtraum: Sie ist Premierministerin – und ein Grauen namens Brexit steht drohend bevor.

Illustration: Kriki

„Ayyyyyyye“, hallte der herzzerreißende Schrei durch die Pfarrei Wheat-ley. Reverend Hubert Brasier aber schlief tief und fest, weil er am Abend, da seine Gattin auf Reisen war, dem Sherry zugesprochen hatte. Mehr als es ihm guttat. Und so hörte der Geistliche der Church of England seine einzige Tochter Theresa Mary nicht, die nun aufrecht im Bett saß, um Luft rang und sich die Schweißperlen von der Stirn wischte. Ein Albtraum! Ein fürchterlicher Nachtmahr hatte die Zwölfjährige fest in den Klauen gehabt.

Man schriebe das Jahr 2019, träumte es die junge Theresa Mary. In exakt fünfzig Jahren würde es eine Uhren-umstellung von der Winter- auf die Sommerzeit geben. Wozu auch immer, wunderte sich die nervöse Träumerin im weißen Nachthemd und strich sich eine nasse Strähne ihres dunkelblonden Mäusehaars aus den Augen. Und sie, Theresa Mary, wäre alt, sehr alt.

Schnell rechnete die ausgezeichnete Gymnasiastin der Holton Park Girls School, wie viele Jahre sie dann bereits gelebt hätte. Zweiundsechzig! Ein Schauder lief ihr über die bloßen Schultern. Auch weil ihr plötzlich einfiel, dass alles noch viel ärger war: Sie, Theresa Mary, die dann nicht mehr Brasier, sondern anders hieß, weil sie einen trottelig sanften Mann geheiratet hatte, war Premierministerin! Von Großbritannien! Na, schönen Dank!

Ein wenig fühlte sich Theresa Mary auch geschmeichelt, in ferner Zukunft als vermutlich erste Frau das hohe Amt innezuhaben. Aber dann überkam das ganze Grauen den überspannten Teenager, der sich bis dahin höchstens für die Beatles und den Nachbarjungen interessiert hatte, der die Fab Four so toll nachmachen konnte: Nigel Barnes. Der Pickelkönig von Wheatley. Von dem würde sie gern mal träumen im Hier und Jetzt des Jahres 1969.

Entsetzliches geschah: Sie war Premierministerin und trug scheußliche spitze Leopardenfellschuhe und war von Gruselgestalten umgeben. Grausame Politiker, die sie auf dem Richtblock des Henkers sehen wollten. Wie auf dem Bild von Maria Stuart. Das Blut schoss der bedauernswerten Schottin sirupdick aus dem offenen Hals.

Angst unter der Daunendecke

Plötzlich gongte die große Wanduhr im Erdgeschoss neben der Treppe. Zehn. Elf. Zwölf. Und Theresa Mary verschwand bis zu den Augen unter ihrer Daunendecke. „Brexit“ – dieses merkwürdige Wort. Alle sechs Buchstaben leuchteten blutrot vor ihren Augen an der Wand, an der normalerweise das Ringo-Starr-Poster hing. Es klang nach Mord und Totschlag, nach Pulver und Bomben, nach schmerzenden Schreien und fliegenden Fäusten. Ein Windstoß ergriff die Gardine, die wie ein Totenschleier zu ihr herüberwehte. Theresa Mary wagte kaum mehr zu atmen.

Das Vereinigte Königreich war in seiner schwersten Stunde angelangt, wie zu Zeiten des „Blitz“, als die Nazis die Insel mit ihren V2 malträtierten und der stotternde König mit schwacher Stimme seine Untertanen aufrief, stolzen Mutes den Schrecken auszuhalten und sich der Tyrannei entgegenzustellen. Ihr geliebtes England – ein Paria. Eine belanglose Insel wie Grönland am Rande der bekannten Welt.

Zitternd erinnerte sich das blasse Mädchen: Das wunderbare Land der Swinging Sixties hatte sich zum größten Gespött der Menschheit gemacht, weil es sich im Jahr 2019 selbst auflöste. Einst hatte man das Parlament, die Demokratie und sogar die Beatles erfunden. Und jetzt war sie allein, Theresa Mary Brasier, oder wie immer auch sie künftig heißen würde, an allem schuld.

Putzlappen für Schimpfwort

Jedenfalls sahen es alle anderen so und beschimpften sie immerzu – in Westminster, in der Fleet Street und irgendwo in diesem fucking Europe! Theresa Mary erschrak über sich selbst. Zum Glück konnte ihr Vater nicht ihre Gedanken lesen. Hätte er das Schimpfwort aus ihrem Mund gehört, hätte er ihr mit dem alten Putzlappen, mit dem er seine Untenrum-Geschäfte besorgte, das Schandmaul ausgewaschen.

Aber was konnte sie nur tun, um England, die Nation, die Krone zu retten? Ja, was war eigentlich mit Ihrer Majestät? Queen Elizabeth war immer noch an der Macht und musste schon hundert sein. Doch die Königin hielt sich vornehm heraus, überließ solche Nichtigkeiten lieber ihrer Premierministerin. Hip, hip, hooray!

Theresa Mary schloss die Augen: Was, wenn sie einfach wieder einschliefe? Das ganze Chaos wegschlummerte? Keine Uhrenumstellung! Kein Brexit! Kein Untergang des Vereinigten Königreichs! Schon bei den langen Worten legte sich eine Schwere wie Sandstaub auf die Lider des Mädchens, das keine Sekunde brauchte, um sich in die ferne Welt zurückzuversetzen, die sie erst vor wenigen Minuten mit einem Schrei verlassen hatte.

Ein weißes Tor öffnete sich, aus dem Daten purzelten wie übermütige Welpen: der 31. März, der 12. April, der 22. Mai rasten an ihr vorbei wie die Windhunde auf der Rennbahn des Oxford Greyhound Stadiums. Theresa Mary wurde tief hineingesogen in den hellen Tunnel der Zeit – nichts war mehr wie zuvor. Die englischen Upperclass-Boys wurden durch den Brexit in walisische Kohlegruben katapultiert, wo als Priester verkleidete Gewerkschafter bizarre Menschenopfer zelebrierten, für die schottische Girls mit rotkarierten Kilts und indischen Turbanen Ringo Starr und sie durch die Carnaby Street jagten: „Kaili!“

Nur die ehedem rabaukigen Iren waren nun ruhig und friedlich. Das geeinte Irland war im Jahr 2525 gelandet, wo es im Weltall eine Kette von Planeten unterhielt, von denen aus lustige grüne Kobolde mit einem Wurmloch als Zeitmaschine das Universum bereisten, um den Bewohnern sämtlicher Sonnensysteme Fish & Chips als Trockenpulver in Tüten zu verkaufen.

Kinder von Gottes Gnaden

Theresa Mary lachte und lachte in ihrem Gar-nicht-mehr-Albtraum. Denn ein vereintes Irland dieser Rauf- und Trinkbolde würde es nie und nimmer geben, nicht in fünfzig, nicht in hundert Jahren, nicht mal im Jahr 2525. Aber wenn es die Iren nicht schafften, dann wäre doch auch dieser Brexit gar nicht möglich. Und wenn es keinen gäbe, dann würde sie niemals Premierministerin werden und vor der Queen knien. Sie würde, wie sie es sich ihr Leben lang inständig gewünscht hatte, Vikarin werden, den hoffentlich dann pickelfreien Nigel Barnes aus dem Nachbarhaus heiraten und sieben Kinder von Gottes Gnaden bekommen.

Mit einem zufriedenen Lächeln erwachte Theresa Mary. Die ersten Sonnenstrahlen erkundeten den Weg in ihr Zimmer und ließen den grinsenden Ringo Starr an der Wand leuchten. Irgendwo war ein kräftiger Rumms zu hören. Wahrscheinlich ihr Vater, der mit seinem morgendlichen Kater aus dem Bett gefallen war. Oder war es doch das Wurmloch, das sich schlagartig geschlossen und die elende Zukunft mit dem Zeit fressenden Brexit verschluckt hatte? Die alte Wanduhr unten an der Treppe gongte. Sie würde niemals umgestellt werden. Nicht heute. Und nicht in fünfzig Jahren.

Die Wahrheit auf taz.de

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

ist die einzige Satire- und Humorseite einer Tageszeitung weltweit. Sie hat den ©Tom. Und drei Grundsätze.

kari

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.