Migrationsforscherin über Ostdeutsche: „Angst, auf Platz drei zu landen“

Ostdeutsche fühlen sich von der westdeutschen Mehrheit ausgegrenzt. Deshalb reagieren sie abwertend gegenüber Muslimen, die sie als Rivalen sehen, sagt Naika Foroutan.

Großaufnahme von Naika Foroutan, 49 Jahre, halblange dunkle Haare und große stark geschminkte Augen

30 Jahre nach dem Mauerfall findet eine Art Migrantisierung der Ostdeutschen statt, sagt Foroutan Foto: Wolfgang Borrs

taz: Frau Foroutan, ähneln sich die Vorurteile in Westdeutschland gegenüber Ostdeutschen und MigrantInnen?

Naika Foroutan: Ja, nicht nur Vorurteile, auch Stereotype und Abwertungen ähneln sich. Wir haben festgestellt, dass Westdeutsche den MuslimInnen und Ostdeutschen vorwerfen, sich zum Opfer zu machen. Das sagt mehr als ein Drittel der Westdeutschen über Muslime, und noch mehr über Ostdeutsche.

Das ist der Versuch, strukturelle Ungleichheiten abzuwehren – Ihr jammert ja bloß. Doch auf das, was diese beiden Gruppen aufmerksam machen, ist kein Jammern: Migranten und Ostdeutsche sind bekanntlich stärker von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen und haben deutlich weniger Vermögen als Westdeutsche.

Aber knapp Zweidrittel der Westdeutschen sagen das nicht über Muslime…

47, ist Migrationsforscherin, Professorin an der Humboldt-Universität und Co-Leiterin des DeZim, des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung in Berlin.

Ja, aber in der Sozialwissenschaften gilt ein Drittel als kritische Masse, die politische Stimmungen stark beeinflussen kann. Es gibt auch noch mehr Ähnlichkeiten. So rückt rund ein Drittel der Westdeutschen Muslimen und Ostdeutschen in die Nähe zum Extremismus.

Und ein Drittel glaubt, dass die Ostdeutschen noch nicht in Deutschland angekommen sind: Die müssen sich also noch eingewöhnen, sind noch fremd. Das ist, dreißig Jahre nach Mauerfall, eine Art Migrantisierung der Ostdeutschen.

Was hat Sie an der Studie überrascht?

Dass Ostdeutsche sich selbst auf gleicher Ebene in der Gesellschaft sehen wie Muslime. Die Hälfte der Ostdeutschen denkt von sich selbst, dass sie als Bürger zweiter Klasse behandelt werden – und sie denken dies auch von Muslimen. Da ist eine starke Ähnlichkeit.

Warum ist das überraschend?

Weil die soziale Wirklichkeit anders ist. Ostdeutsche sind weniger stark von Rassismus betroffen als Muslime und bekanntermaßen strukturell deutlich besser gestellt. Aber offenbar sind die Stereotype über Ostdeutsche so wirksam, dass sie sich ähnlich weit unten und ausgegrenzt verorten.

Das ist ein Grund für antimuslimische Haltungen im Osten: Man fühlt sich von der westdeutschen Mehrheit ausgegrenzt – und fürchtet deshalb den sozialen Aufstieg der anderen Außenseitergruppe.

Knapp die Hälfte der Ostdeutschen lehnt mehr muslimische ChefInnen ab…

Das zeigt die Angst, möglicherweise auf dem dritten Platz zu landen und von der anderen Minderheit, den Muslimen, überholt zu werden.

Gleichzeitig ist die Hälfte der Deutschen, in Ost und West, der Meinung, dass Muslime benachteiligt werden. Ist dies nicht das Gegenteil von Konkurrenz – ein Ausdruck von Empathie mit einer benachteiligten Gruppe?

Ja, vermutlich. Aber trotzdem möchten viele nicht, dass Muslime sozial an ihnen vorbeiziehen. Auch dieses Phänomen gibt es öfter. Viele Männer sagen: Es gibt nur ein Drittel Frauen im Bundestag, die Frauen sind benachteiligt. Aber trotzdem sind diese Männer nicht für ein Parite-Gesetz.

Solche Widersprüche zwischen Erkenntnis und dem Gefühl, selbst irgendwie bedroht zu sein, wenn Gleichheitsrechte wirklich umgesetzt werden, sind häufig.

28 Prozent der Ostdeutschen sagen, dass sich Ostdeutsche zu sehr als Opfer sehen. Die Studie liest daraus, dass fast ein Drittel den Opfervorwurf aus dem Westen verinnerlicht hat. Kann es sich hier nicht auch um Selbstkritik an dem Opferbild handeln? Oder um einen Generationskonflikt – Ältere sehen sich als Opfer der Umstände, Jüngere lehnen das ab?

Wir wissen, dass Hispanics in den USA zu 30 Prozent Trump gewählt haben, obwohl Trump Hispanics als Kriminelle diffamiert hat. Es gibt Frauen, die misogyne Bilder übernehmen.

Ein solcher Effekt liegt auch in diesem Fall nahe – dass ein Teil der Ostdeutschen den Opfervorwurf herauspickt und gegen die eigene Gruppe ins Spiel bringt, um sich so damit über die negativ stigmatisierte eigene Gruppe zu erheben – nach dem Motto, ich bin keiner von denen. Aber Sie haben Recht: Es kann auch andere Gründe geben.

Sehen Sie, angesichts der Ähnlichkeiten der Bilder von Muslimen und Ostdeutschen mögliche politische Gemeinsamkeiten? Oder Bündnisse?

Das ist eine politische Frage, die über die Studie hinaus geht. Es mag attraktiv klingen, dass sich zwei marginalisierte Gruppen gegen den Hegemon verbünden. Aber diese Gruppen sind sehr unterschiedlich. Die Studie zeigt allerdings, dass fast jeder Dritte in West und Ost eine Quote für Migranten für gerechtfertigt hält. Eine so große Zahl hatte niemand von uns im DeZIM-Institut erwartet. Dieses Drittel kann ansprechbar für Allianzen sein, um Benachteiligungen abzubauen.

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