Der Mord an einer Million

Beim Völkermord in Ruanda wurden innerhalb weniger Monate über eine Million Menschen systematisch getötet, zum größten Teil – nach amtlichen Angaben 937.000 Menschen – Angehörige der Tutsi-Minderheit. Die Täter wollten verhindern, dass jemals wieder Tutsi – ursprünglich in Ruanda ein Begriff für das unmittelbare Umfeld des Königshofes, später von europäischen Kolonisatoren fälschlich als eingewanderte Ethnie charakterisiert – herrschen würden. Ruanda sollte allein den Hutu gehören, der „Mehrheitsbevölkerung“.

Die Massaker begannen am Abend des 6. April 1994, nachdem Ruandas damaliger Hutu-Präsident Juvénal Habyarimana beim Rückflug in seine Hauptstadt Kigali getötet wurde. Zwei Raketen, abgefeuert von einem Hügel unter Kontrolle der Präsidialgarde, trafen das Flugzeug, in dem er gerade von einem Gipfeltreffen zurückkehrte. Dort hatte er die Umsetzung eines Friedensabkommens mit den in Ruanda kämpfenden Tutsi-Rebellen der „Ruandischen Patriotischen Front“ (RPF) zugesagt.

Radikale Hutu-Politiker und -Generäle hatten dieses Abkommen strikt abgelehnt. Sie predigten die Auslöschung aller Tutsi, bauten unter Hutu-Jugendlichen Milizen auf und bekämpften mit Militärhilfe aus Frankreich die RPF-Rebellen und sämtliche Tutsi Ruandas als „inneren Feind“.

Mit ihrem Militärputsch setzten sie die Mordmaschinerie in Gang: Gegner der Extremisten, Tutsi wie Hutu, wurden noch in der Nacht von Habyarimanas Tod aufgespürt und umgebracht; in der Hauptstadt Kigali und dann auch in gesamten Land wurden Tutsi – erkennbar am entsprechenden Eintrag im Personalausweis – aus ihren Häusern geholt oder an Straßensperren ausgesondert und getötet.

Wer konnte, rettete sich auf Kirchen- und Schulgelände oder andere öffentliche Orte, in der Hoffnung, Schutz zu finden. Diese Zufluchtsorte wurden zu Fallen: Nach wenigen Wochen wurden die dort zusammengepferchten Tutsi von der Armee angegriffen und getötet. Hutu-Milizen aus der lokalen Zivilbevölkerung erledigten mit Macheten, Äxten und Knüppeln den Rest. „Die überwiegende Anzahl der in Ruanda getöteten Menschen starb in großangelegten Massakern, vor allem in Kirchenzentren, aber auch in Krankenhäusern, Schulen, auf Fußballfeldern, auf freiem Feld oder an Flussufern“, fasst die Menschenrechtsorganisation African Rights zusammen.

In der Präfektur Gikongoro im Südwesten des Landes forderten die Massaker nach amtlichen Berechnungen über 106.000 Opfer. Das Töten in Gikongoro begann früher als in anderen ländlichen Regionen. Die politischen Hutu-Führer hier waren besonders radikal: Teile der Präfektur grenzen an die benachbarte alte Königshauptstadt Butare, wo besonders viele Tutsi wohnten; in den Grenzgebieten zum damals Tutsi-regierten Burundi lebten viele burundische Hutu-Flüchtlinge.

Die in Ruanda stationierten UN-Blauhelme ließen den Völkermord geschehen. Sie wurden zu ihrer eigenen Sicherheit größtenteils abgezogen. Das Morden endete erst, als die Tutsi-Rebellen Ruanda allmählich eroberten. Frankreich, das Ruandas Regierung militärisch unterstützte, griff erst ab dem 22. Juni militärisch ein – als die Regierung dabei war, den Krieg gegen die RPF zu verlieren. Unter dem Beifall der Völkermordmilizen besetzten französische Soldaten Ende Juni den Südwesten ­Ruandas, um die RPF am weiteren Vormarsch zu hindern.

Murambi, die Stätte eines der größten Massaker des Völkermordes nur wenige Wochen zuvor, wurde eine ihrer wichtigsten Hauptquartiere. Erst nachdem sich die für den Völkermord verantwortliche ruandische Regierung und Armeeführung samt Staatskasse, Waffenarsenalen und vielen Hutu-Zivilisten im Juli in den Kongo abgesetzt hatten, überließ Frankreich auch Südwestruanda der RPF – mitsamt Murambi. Dominic Johnson