Reisen in Zeiten der Klimakatastrophe: Nach Schanghai mit dem Daumen

Alle Welt fliegt. Dabei kann man auch nach China reisen, ohne einen Cent dafür zu bezahlen – und zwar per Anhalter.

Flaches Land, leere Straße und eine einsame Frau

Irgendwo im Nirgendwo in Kasachstan Foto: Martin Desho

AUGSBURG/SHANGAI taz | Mein Freund Martin Desho und ich saßen auf den Rücksitzen eines Pkws in Kasachstan, der von einem betrunkenen Polizisten gefahren wurde. Er wedelte immer wieder mit seinem Dienstausweis herum, wenn er einen Schluck aus seiner Flasche nahm und dabei die Verkehrsregeln unmissverständlich verletzte, etwa wenn er über Bordsteine fuhr oder auf halsbrecherische Weise überholte.

Damit wollte er wahrscheinlich ausdrücken, er dürfe das. Neben ihm saß eine Frau, die er wie zuvor uns am Straßenrand aufgesammelt hatte. Nachdem er die Frau zu einigen Schlucken aus seiner Flasche eingeladen hatte, fingen die zwei an, sich während der Fahrt anzufassen. Außerdem konnte man sich nicht anschnallen.

Wenn ich gefragt werde, ob es nicht gefährlich war, von Augsburg nach Schanghai zu trampen, erzähle ich meistens von dieser Situation. Es war die einzige, in der ich wirklich Angst um mein Leben hatte. Es war auf dem Weg von Taras nach Almaty, also knapp 500 Kilometer, und wir wollten am selben Tag dort ankommen, weil wir dort für kurze Zeit arbeiten konnten.

Ein paar Monate zuvor hatte ich während einer Ausstellung in Warschau über das Trampen Reisende aus der ganzen Welt getroffen und viel Zeit mit ihnen verbracht. Als ich ihnen erzählte, dass mein Freund und ich bald nach Japan wollten, brachten sie mich auf die Idee, per Anhalter hinzufahren. Wir sind beide schon davor viel getrampt, manchmal zusammen und manchmal allein. Als ich meinem Freund diese Reise vorschlug, sagte er sofort zu.

Startpunkt: Messezentrum Augsburg

Wir schauten uns die unterschiedlichen Reisewege an und wählten schließlich den aus, für den man am wenigsten Visa beantragen musste. Die Route führte über Tschechien, Polen, die Ukraine, Russland und Kasachstan.

Der Grund dafür, dass wir nach Schanghai getrampt sind und nicht zu unserem eigentlichen Ziel Japan, ist, dass man, um ein chinesisches Visum zu erhalten, einen gebuchten Ausreiseflug nachweisen muss. Sonst hätten wir versucht, am Hafen von Schanghai auf einem Schiff mitgenommen zu werden. Da wir den Flug also sowieso buchen mussten, sind wir von dort nach Tokio geflogen.

Wir gingen arbeiten und kauften uns die Ausrüstung; ein Zelt besaßen wir schon, wir benötigten Matten und andere Campinausstattungsgegenstände. Als wir die nötigen Dinge hatten und die Visa genehmigt waren, stellten wir uns an die Straße.

Wir starteten am Messezentrum in Augsburg. Aus Städten herauszutrampen ist immer schwierig, und im weiteren Verlauf vermieden wir es, eine Fahrt in Städten zu beenden. Anfangs hatten wir jedoch keine Wahl, und so dauerte es fast zwei Stunden, bis uns ein Fahrer mitnahm. Die erste Nacht zelteten wir an einer Autobahnauffahrt nahe der tschechischen Grenze.

Autostopperin an leerer Straße

Wann hält endlich mal einer? Autostopperin Judith in der Ukraine Foto: Martin Desho

Ein Zettel hilft durch Osteuropa

Ab dem zweiten Tag konnten wir nur noch selten mit den FahrerInnen sprechen, da wir keine gemeinsame Sprache hatten. Das war im Vergleich zum Trampen in Deutschland deutlich schwieriger. Wir verbrachten viel Zeit damit, den FahrerInnen auf Google Maps den Weg und mit dem Finger in die gewünschte Richtung zu zeigen. Außerdem lernten wir später den russischen Ausdruck tschut-tschut kennen, was so viel bedeutet wie „ein kleines bisschen“. Damit drückten wir aus, dass uns auch nur ein paar Kilometer in die richtige Richtung ausreichen würden. Manchmal bedeutete es auch, dass wir nur ein wenig von dem selbst gebrannten Schnaps probieren wollten.

Durch Tschechien und Polen ging es eher stockend. Wir hatten schon Bedenken, dass wir den Flug in Schanghai vielleicht verpassen würden. Wir mussten oft lange warten. Dabei lernten wir aber auch andere Tramper kennen, die zum Beispiel, als wir neben einer Tankstelle bei Ostrau campten, abends russische und ukrainische Volkslieder sangen. Außerdem verhalfen diese Tramper uns später in Russland zu einem Schlafplatz bei Freunden.

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Ab der Ukraine bis Kasachstan half uns ein Zettel, auf dem auf Russisch sinngemäß stand, dass wir nach Japan trampen wollten und ob die FahrerInnen uns ein Stück umsonst mitnehmen könnten. Wenn er gelesen wurde, folgte meistens die überraschte Rückfrage: „Umsonst?“, und wir nickten, und dann stiegen wir ein. Es ist in der Ukrai­ne und Kasachstan üblich, Tramper nur mitzunehmen, wenn diese einen kleinen Betrag zahlen. Unser Ziel war aber, ohne Ausgaben für den Transport nach Schanghai zu kommen, und wir zahlten für eine Autofahrt nie Geld. Wir revanchierten uns mit einem Bild von den FahrerInnen und uns aus einer Sofortkamera – jedenfalls so lange, bis wir die Kamera in Kasachstan liegen ließen.

In Russland nahm uns ein junges Paar mit einem neugeborenen Kind mit. Im Auto lief Psytrance, und uns wurde Bier angeboten. Die beiden zeigten uns ihr Haus, ihren Hof, stellten uns die Verwandten vor, ließen uns duschen, gaben uns zu essen und zu trinken und baten dann einen ihnen bekannten Lkw-Fahrer, uns zur nächsten Stadt mitzunehmen. Die Grenze nach Kasachstan überquerten wir in einem großen Wagen mit ungefähr zehn Männern, die ihre russischen Visa erneuern wollten und hinter der Grenze gleich wieder umdrehten.

In Kasachstan zu trampen war eine prägende Erfahrung. Wir waren so weit gekommen, und an diesem Punkt war die Weite der Welt spürbar. Manchmal zelteten wir an Orten, die Hunderte Kilometer von jeder größeren Ortschaft entfernt waren. Wir bekamen viel Essen von FahrerInnen geschenkt und hatten immer eine Notration dabei. Wir stellten immer sicher, dass wir genug Wasser hatten, mit mehreren Flaschen und einem Fünfliterkanister. Wir wuschen uns mit dem Wasser aus diesem Kanister, manchmal auch in Flüssen und bei Menschen, die uns zu sich einluden. Oft kamen nur sehr wenige Autos, und meistens hielt das erste oder zweite, das an uns vorbeikam.

Mann und Frau in Winterkleidung

Kalt hier: Judith Gebhardt und Martin Desho in Kasachstan Foto: Martin Desho

Zelten am Yssykköl, Übernachten bei freundlichen Menschen

Wir machten einen Abstecher nach Kirgistan, zelteten am Yssykköl, dem größten See des Landes, und wurden an einem anderen Tag von einer Familie zum Übernachten eingeladen. Die Mutter der Familie hatte gerade ihr viertes Kind geboren und war noch im Krankenhaus. Wir durften auf vielen Kissen und Matten schlafen, spielten mit den Kindern, aßen mit den Großeltern, staunten über die Vielfalt der Lebensweisen und fühlten uns sehr willkommen. Auch in Kasachstan durften wir im Haus einer Familie schlafen. Das waren für mich einige der schönsten Momente der Reise.

In China waren wir zuerst in der Provinz Xinjiang, in der es immer wieder Unruhen gibt, und wir mussten ständig unsere Reisepässe zeigen. Es gab eine hohe Polizeipräsenz und viele Straßensperren. Als wir eines Abends unser Zelt auf einem Feld aufgeschlagen hatten, wurden wir plötzlich von ungefähr zehn schwer bewaffneten Polizisten umstellt, von denen dann einer seine Freundin anrief, weil sie uns in brüchigem Englisch sagen konnte, dass wir hier schnell wieder verschwinden müssten. Wir verbrachten viel Zeit auf der Polizeiwache und mussten dann eine Nacht in einem Hostel verbringen.

Das Trampen in China war der schwierigste Teil der Reise. In allen Ländern, durch die wir davor kamen, war es nicht unüblich, auf diese Weise zu reisen. Die Menschen wussten, was wir wollten. In China aber hatte ich das Gefühl, dass viele FahrerInnen nicht verstanden, was wir da an der Straße machten, und oft war es nicht möglich, es ihnen zu erklären. Wir wurden einige Male an Bahnhöfe gefahren und mussten zurück zur Straße laufen. Es war auch immer wieder eine Herausforderung, die FahrerInnen davon zu überzeugen, dass wir an der Straße herausgelassen werden wollten, um zu zelten, und nicht an einem Hotel.

Später nahm uns ein Paar mit, das mit seinem neuen Auto eine Tour durch das Land machte. Die zwei änderten für uns ihre Route und fuhren uns knapp 2.000 Kilometer in Richtung Osten, sie luden uns mehrmals zum Essen ein und bestanden darauf, für uns eine Nacht im selben Hotel zu bezahlen, in dem auch sie untergebracht waren. Wenn wir mitgenommen wurden und unser Ziel verstanden wurde, waren auch die Menschen in China sehr gastfreundlich und halfen uns, so gut sie konnten.

Unsere Reise nach Schanghai dauerte nur zwei Monate. In dieser Zeit machten wir unzählige Erfahrungen, von denen ich hier nur einen Bruchteil wiedergeben kann. Die wichtigsten Erkenntnisse waren wohl, dass es überall gute Menschen gibt und dass man sehr viel erreichen kann, wenn man es sich wirklich vornimmt. Davon profitieren wir beide noch immer – und wahrscheinlich unser ganzes Leben lang.

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