Die Kirche der Nation

Zwischen Größe und Dekadenz hat die Pariser Kathedrale alle Wirrungen und Wendungen der Hauptstadtgeschichte seit dem Mittelalter miterlebt. Durch Victor Hugo wurde sie zu einem Volkssymbol weit über ihre religiöse Dimension hinaus

Von Laurent Joffrin

Das Herz Frankreichs brennt – vor den Augen all jener vielen Millionen Erdbewohner, die schon einmal zwischen den ehrwürdigen Säulen und den Kapellen voller Mysterien durch das Kirchenschiff gewandelt sind, die feierliche Luftigkeit genossen haben, die verrückten Kreuzgewölbe, die kunterbunten Kirchenfenster. Brennt Paris? Ja, irgendwie. Ein dichter Rauch steht über diesem ebenso bewegenden wie erbarmungslosen Spektakel.

Das brennende Gebälk stützte nicht nur ein kunstvolles Dachgestühl und einen stolzen Turm, sondern auch zu einem guten Teil die französische Identität, wo Schulwissen und Legende aufeinandertreffen: Karl VII. und Jeanne d’Arc, Henri IV. und Bossuet, die Revolution und die beiden Napoleons, die Befreiung, Claudel, der Marschall und der General – und in der Populärkultur vor allem der Glöckner Quasimodo, Frollo und Esmeralda, die Helden Victor Hugos, der mit seinem Monument aus Papier dem Monument aus Stein ein Denkmal gesetzt hat.

Notre-Dame de Paris, das ist zunächst einmal ein brutales und üppiges Mittelalter, zu Unrecht missachtet, von Historikern rehabilitiert, von der Öffentlichkeit geliebt, mit seiner an Fanatismus grenzenden Gläubigkeit, seinen blutigen Game-of-Thrones-Intrigen, seinem Elend und seinen Massakern, die einem den Glauben nehmen. Das große steinerne Raumschiff mitten in der Hauptstadt war der Treffpunkt des Volkes. Auf der Île de la Cité, wo einst das römische Lutetia stand, errichteten die mit unbeschränkter Macht ausgestatteten Kirchenoberen diese Opfergabe aus Stein an ihren über Europa herrschenden Gott.

Von West nach Ost gen Jerusalem ausgerichtet wie so viele Kathedralen, zwei massive Türme, ein gigantisches Kirchenschiff, ein Querschiff mit Rosenkränzen aus Licht, ein Chor wie ein in die Seine hineinragender Bug, ein Turm als Wolkenkratzer über dem christlichen Paris als Inkarnation der unangreifbaren Macht des Katholizismus. Ringsum drängeln sich die fragilen Verschläge eines an Unglück gewohnten Volkes, das harte Leben im Schatten der steinernen Wasserspeier und Heiligen, unter dem Schutz von Reliquien mit magischen Kräften, darunter die von Ludwig dem Heiligen dort verstaute Dornenkrone Jesu Christi.

Große Ereignisse folgten aufeinander in diesem lebenden Museum und markieren die Kapitel der Geschichtsbücher der Republik. Philipp IV., genannt der Schöne, berief hier im Streit mit dem Papst die ersten Generalstände des Königreiches ein. Karl VI., genannt der Vielgeliebte, wurde als Kind hier zum König von Frankreich und England gekrönt, ebenso später Maria Stuart aus Schottland. Karl VII., genannt der Siegreiche, feierte hier die Rückeroberung seiner Hauptstadt von den Engländern und den Burgundern mit einem Te Deum, das erste einer langen Reihe, und berief das Kirchentribunal ein, das die in Rouen verbrannte Jeanne d’Arc rehabilitierte.

Margarete von Valois, genannt Königin Margot, heiratete hier Heinrich von Navarra, den Hugenottenkönig, der während der Trauzeremonie draußen wartete, sechs Tage bevor aus dieser Versöhnungshochzeit die Bluthochzeit mit dem Massaker der Bartholomäusnacht wurde.

Napoleon krönte sich hier zum Kaiser, nahm aus den Händen des Papstes die Krone entgegen, um sie sich selbst auf den Kopf zu setzen und dann seine Tochter Josephine zu krönen. Sein Neffe Napoleon III. heiratete hier seine Kaiserin und ließ hier den Kaiserprinzen taufen. Zwischendurch hatte die Revolution aus der Kathedrale einen kurzlebigen „Tempel der Vernunft“ gemacht, in einem vergeblichen Versuch der Entchristianisierung, als aus Kirchen Getreidespeicher wurden und aus ­Glocken Kanonen.

Dunkle Stunden gab es während der deutschen Besatzung. Kardinal Suhard empfing hier unter dem Jubel der Pariser im April 1944 Marschall Pétain. Lichte Stunden folgten: die Befreiung von Paris begann nahe dem Vorplatz mit der Revolte der Polizeipräfektur, ging weiter mit einem Steinwurf vor dem Rathaus, mit den Panzerfahrzeugen von Kapitän Dronne und spanischen Republikanern und schließlich der Marseillaise im Beisein von General de Gaulle und den Anführern des freien Frankreichs und der Résistance. Im Augenblick ihres Einzugs in die Kathedrale eröffneten Scharfschützen von Dächern das Feuer auf die Menge, und es heißt, der General sei als einer der wenigen aufrecht geblieben und unverändert bedächtig in das Kirchenschiff geschritten.

Hinter einer Säule von Notre-Dame fand Claudel zum Glauben, hier betrauerte die Nation Charles de Gaulle, Georges Pompidou und François Mitterrand. Hier ehrte man den Abbé Pierre, die Schwester Emmanuelle, hier nahm sich der rechtsextreme Schriftsteller Dominique Venner das Leben, hier sammelte man sich nach den Anschlägen des November 2015.

Hier betrauerte die Nation Charles de Gaulle, Georges Pompidou und François Mitterrand

Notre-Dame steht also für Geschichte der imposantesten und traditionellsten Form. Aber Notre-Dame steht auch für das Volk. Victor Hugo hat die düsteren Emotionen des Glaubens beschrieben, aber vor allem den Überschwang der Menge auf dem Vorplatz und sogar im Kirchenschiff, wo sich die Handwerker drängelten, die Spinnweber, die Lastenträger, die Prostituierten, wo die Zigeunerin Esmeralda tanzte, wo der Glöckner Quasimodo litt – er lebte in den obskuren Höhen des Gebälks, das jetzt verbrannt ist.

Vor ihm hat Eugène Sue seine „Mystères de Paris“, den ersten großen Reportageroman über das Elend, die Menschlichkeit und die Würde der Vergessenen, hier auf der Île de la Cité beginnen lassen, im ärmsten Viertel der Hauptstadt. Und nicht zuletzt hat ein Musical voller leichter Melodien in die ganze Welt den Ruhm dieses Monuments getragen, das in sich die Größe einer mythischen Geschichte mit den allzu menschlichen Prüfungen eines mal devoten, mal aufsässigen Volkes vereint.

Übersetzung: Dominic Johnson