Kritik an „Subaltern Studies“: Keinen blassen Schimmer

Vivek Chibber liefert eine so überzeugende wie fundierte Kritik an den weit verbreiteten postkolonialen Behauptungen unserer Zeit.

Ein antiker Globus, auf dem Africa steht

Reproduziert der Postkolonialismus den Orientalismus, den er eigentlich kritisieren will? Foto: Joao Silas/Unsplash

Mode und Trends kommen und gehen. So verhält es sich auch in der Wissenschaft. Seit einigen Jahrzehnten gehören Postkoloniale Theorien in der Akademie zum guten Ton. Zentral bei diesem breiten Spektrum theoretischer Zugänge ist die Kritik am Eurozentrismus, also der ideologischen Beurteilung außereuropäischer Gesellschaften nach europäischen Vorstellungen, sowie an kolonialer Ideologie und ökonomischem Determinismus. Die führenden Theoretiker*innen beanspruchen, die Quellen des Handelns lokaler Bevölkerungen, der „Subalternen“, ans Licht geholt und der Kultur wieder einen zentralen Stellenwert für die Gesellschaftsanalyse eingeräumt zu haben – insbesondere durch ihre Betonung der kulturellen Besonderheit des „Ostens“ und des „Südens“.

Dort würde die „Moderne“ einen anderen Weg einschlagen als in Europa und nicht die gleichen Institutionen herausbilden. Im Zentrum steht die Behauptung, dass eine tiefe Bruchlinie zwischen den westlichen kapitalistischen Nationen und der postkolonialen Welt verläuft.

Gerade nach dem Niedergang des akademischen Marxismus erfreute sich der Postkolonialismus unter linken Studierenden großer Beliebtheit. Führende Vertreter*innen der postkolonialen Studien haben darüber hinaus immer wieder betont, dass sie mehr seien als bloße Theorie; sie sehen sich selbst als eine Form von Praxis oder gar als Bewegung.

In ihren Anfangsjahren richtete sich dieser Impuls natürlicherweise gegen die Strukturen der kolonialen Beherrschung. In jüngster Zeit haben die postkolonialen Studien ihren Bereich jedoch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse im allgemeineren Sinne erweitert.

Die These ist starker Tobak

Der New Yorker Soziologieprofessor Vivek Chibber ist nun angetreten, die Subaltern Studies, sein Paradebeispiel für postkoloniale Theorie, marxistisch geschult zu kritisieren – an ihnen lässt er kein gutes Haar. Chibber macht sich auf seinen knapp 400 Seiten viel Arbeit, die Argumentation der postkolonialen Theorie nachzuvollziehen und dann Schritt für Schritt zu widerlegen. Das ist manchmal etwas mühsam und langatmig zu lesen. Was kritisiert er nun?

Chibber vertritt in seinem Buch die These, dass die postkoloniale Theorie nicht nur empirisch fehlerhaft sei, sondern genau den Orientalismus wiederbelebe, den sie angeblich kritisieren wolle. Sie sei daher nicht nur unfähig, die Entwicklung der postkolonialen Welt zu erklären, sondern stehe auch einer emanzipatorischen Politik im Wege, die sie zu unterstützen meint. Starker Tobak!

Folgt man Chibbers Analyse, scheitern die Subaltern Studies, weil sie das Verhältnis von Kapitalismus und Moderne systematisch falsch verstehen. Subalternistische Theoretiker*innen identifizieren den Kapitalismus mit seinen erst in jüngerer Zeit entstandenen liberalen Erscheinungsformen.

Statt den liberalen, demokratischen Kapitalismus als ein neues Phänomen zu betrachten, das durch Jahrhunderte des Klassenkampfes geschaffen wurde, machen sie diese Besonderheit zu einem Teil ihrer grundlegenden Definition des Systems. Da der Kapitalismus derart eingeschränkt definiert wird, lässt sich natürlich leicht behaupten, dass man es im Osten überhaupt nicht mit Kapitalismus oder höchstens einer unechten Version zu tun habe.

Ironie in der Argumentation

Chibber entkräftet die These, wonach das Kapital bei seiner Ankunft in der kolonialen Welt seine universalisierende Mission – die Mehrwertproduktion – aufgegeben habe. „Was jedoch unter der Herrschaft des Kapitals universalisiert wird, ist nicht das Streben nach einer konsensuellen und integrierenden politischen Ordnung, sondern der Zwang der Marktabhängigkeit“, so Chibber. Kapitalismus bedeutet Abhängigkeit vom Markt. Dem widerspricht nicht das Fortbestehen archaischer Machtverhältnisse, der Rückgriff auf traditionelle Symbole, die Stabilität von Bündnissen auf der Basis von Kastenzugehörigkeit oder Verwandtschaft – all dies lässt sich mit der weltumspannenden Tendenz des Kapitals in Einklang bringen.

Vivek Chibber: „Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals“. Karl Dietz Verlag, Berlin 2019, 382 Seiten, 29,90 Euro

Die Postkoloniale Theorie behaupte, universalisierende Kategorien würden zu einer homogenen sozialen Landschaft führen. Dem widerspricht Chibber: „Universal wird mit homogen gleichgesetzt.“ Für ihn bietet die abstrakte Logik des Kapitalismus, die Marx mit dem Begriff der abstrakten Arbeit zu erfassen versuchte, die Möglichkeit, eine ungeheure Vielfalt an sozialen Identitäten innerhalb der Gesellschaften zu erfassen. Das Kapital muss sich nicht zwangsläufig jede Gesellschaft zum exakten Ebenbild formen, es reicht, wenn die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft sichergestellt ist. Lokale Differenzen oder Eigenheiten stehen dem nicht im Wege, sondern können sogar bewusst reproduziert und sogar erzeugt werden. Einige Mitglieder des Kollektivs der Subaltern Studies haben diese Möglichkeit kategorisch ausgeschlossen.

Die Ironie der Subaltern Studdies besteht, so Chibber, nun darin, dass sie sich „zwar als das neue Gesicht der radikalen Kritik im Zeitalter des globalen Kapitalismus präsentieren“, aber in der Argumentation „zentrale Elemente der konservativen Ideologie wiederbeleben.“ Völlig unterschätzt wird die Fähigkeit des Kapitalismus, Heterogenität nicht nur zu tolerieren, sondern aktiv zu fördern.

Chibbers Urteil fällt damit auch eindeutig aus: „Wenn eine Theorie keinen blassen Schimmer davon hat, wie der Kapitalismus funktioniert, kann ihr Anspruch, marxistische oder andere radikale Analysen zu ersetzen, natürlich nicht ernst genommen werden.“ Postkoloniale Theorie scheitere nicht nur mit ihrer Analyse des Kapitalismus, sie könne auch kein Vorreiter der antikolonialen oder antiimperialistischen Kritik sein, weil sie einige der schlimmsten Formen von orientalistischer Mythologie wiederauferstehen lasse.

Marxismus kann mehr beitragen

Chibber nimmt die Argumente seiner akademischen Gegner ernst und kennt sich in der Thematik aus. Ebenso fundiert ist seine erfrischende und klare Kritik an den Subaltern Studies – gerade aus marxistischer Sicht. Politisch wird er dann, wenn er „zwei Universalismen“ verteidigt, von denen die Moderne beherrscht wird.

Auf der einen Seite der oben beschriebene universelle Trieb des Kapitals, unser Leben zu beherrschen und uns auf seiner Jagd nach Profit gegeneinander auszuspielen. Auf der anderen Seite aber auch die gemeinsame Menschlichkeit, die uns über Kulturen, Sprachen und Religionen hinweg verbindet.

Wenn wir mit dem Aufbau einer humanen Welt vorankommen wollen, die an die Stelle der zerfallenden neoliberalen Ordnung treten kann, dann ist die Anerkennung dieser Gemeinsamkeiten unverzichtbarer Ausgangspunkt. Hierzu kann der Marxismus immer noch mehr beitragen als die Postkolonialen Theorien – allen Moden und Trends zum Trotz.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.