Kommentar Anstieg von Masern: Impfpflicht hilft nicht

Die Debatte um die Impfpflicht dreht sich um ein Feindbild. Dabei wird übersehen, dass etwas anderes besser gegen Nicht-Impfen helfen würde.

Eine Person bekommt eine Spritze in den Oberarm.

Impfen? Lieber freiwillig Foto: dpa

Niedersachsens Gesundheitsministerin Carola Reimann (SPD) hat sich gegen die von der Bundesregierung geplante Masern-Impfpflicht ausgesprochen. Eine Stimme der Vernunft in einer Debatte, in der von einem „Erstarken der Impfgegner“ fantasiert wird, die für den Anstieg der Masernerkrankungen verantwortlich sein sollen.

Belege? Braucht es nicht. Das Wort „Impfgegner“ reicht, um ein Feindbild zu beschwören: Verschwörungstheoretiker*innen, die das Leben anderer aufs Spiel setzen, weil sie ihren Blagen nur Kügelchen geben. Denen zeigen wir’s jetzt mit der Impfpflicht!

Niedersachsens Gesundheitsministerin, die Masernimpfungen zu Recht befürwortet, weiß, dass es so einfach nicht ist. So würde die Pflicht die großen Impflücken, die vor allem bei jungen Erwachsenen bestehen, nicht schließen. 97 Prozent der Schulanfänger*innen sind nämlich einmal gegen Masern geimpft, die zweite Impfung haben 93 Prozent bekommen. Das sind zwei Prozentpunkte zu wenig, um Masern auszurotten. Stimmt. Und 93 Prozentpunkte zu viel, um hysterisch zu werden.

Tatsächlich belegt eine alle zwei Jahre erscheinende Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) Reimanns These, dass es sinnvoller wäre, Eltern besser zu informieren. Nur ein Prozent der befragten Eltern lehnt Impfungen grundsätzlich ab, ein weiteres Prozent bezeichnet sich als „eher ablehnend“. Laut BZgA ist der Anteil der Impfgegner*innen seit 2012 gesunken.

Wissensdefizite als häufig genanntes Impfhindernis

Wenn man davon ausgeht, dass diese zwei Prozent Hardcore-Impfgegner sind, wären sie die Gruppe, für die es die Pflicht bräuchte, weil man bei ihnen mit Argumenten nichts erreicht. Das Problem ist: Eben weil sie so überzeugt sind, werden sie Wege finden, der Impfpflicht zu entgehen und sei es mithilfe ihrer homöopathischen Hausärzte.

Und dann gibt es noch die 13 Prozent der Eltern, die sich als „teils/teils“ bezeichnen. Bei ihnen ist Hopfen und Malz nicht verloren. Aber sie bräuchten eine Kinderärztin, die Zeit hat, sie „ausführlich“ zu beraten, „welche Impfungen sinnvoll sind“. Das soll sie tun, so steht es im Vorsorgeuntersuchungsheft für Kinder.

„Laut BZgA ist der Anteil der Impfgegner*innen seit 2012 gesunken.“

Und jetzt können sich alle, die in den letzten Jahren mal beim Kinderarzt waren, überlegen, wie viel Zeit da wohl gewesen wäre, um „ausführlich“ zu beraten, auf Sorgen einzugehen und diese kenntnisreich zu zerstreuen – und nicht mit einem barschen „Glauben Sie nicht alles, was im Internet steht“ abzuwehren. Laut BZgA-Studie ist das am häufigsten genannte Impfhindernis bei Masern: Wissensdefizite.

Aber das kassenärztliche Abrechnungssystem so zu organisieren, dass Ärzt*innen auch längere Gespräche möglich sind, wäre ein viel dickeres gesundheitspolitisches Brett als ein Gesetz über eine Impfpflicht. Wenn diese eingeführt wird, steigt das Risiko dafür, dass als Trotzreaktion andere freiwillige Impfungen nicht gemacht werden. Das zeigen Untersuchungen und Erfahrungen aus anderen europäischen Ländern. Halb so wild, könnte man argumentieren, dann machen wir eben alle von der Impfkommission empfohlenen Impfungen zur Pflicht! Das aber würde dann doch niemand wollen. Oder?

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Seit 2003 bei der taz als Redakteurin. Themenschwerpunkte: Soziales, Gender, Gesundheit. M.A. Kulturwissenschaft (Univ. Bremen), MSc Women's Studies (Univ. of Bristol); Alumna Heinrich-Böll-Stiftung; Ausbildung an der Evangelischen Journalistenschule in Berlin; Lehrbeauftragte an der Univ. Bremen; in Weiterbildung zur systemischen Beraterin.

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