Buchnacht in Kreuzberg: Und dann eine bewegtere Passage

Am Samstag findet in der Oranienstraße die Lange Buchnacht statt. Die neuen Organisatoren hätten die Veranstaltung gern politischer.

Blättern in Büchern

Selbst lesen darf man auch bei der Buchnacht Foto: dpa

Die Kneipe ist derart proppenvoll, dass die Tür nicht mehr zugeht. Der Autor vorn, den man nur hören, nicht aber sehen kann, hat es schwer, gegen den Lärm anzulesen, nimmt’s aber mit Humor. Er unterbricht, blättert ein wenig weiter, sucht eine passendere Orchestrierung für die Kulisse, liest mit erhobenerer Stimme eine bewegtere Passage seines Buches vor, eine, in der sich zwei streiten und ein Motor aufheult, und alle hören wieder zu. Es sind Szenen wie diese, die einem sofort einfallen, wenn man auch nur einmal die Lange Buchnacht in der Kreuzberger Oranienstraße miterlebt hat.

Die Lange Buchnacht, die zum ersten Mal 1998 stattfand, ist Berlins älteste und größte unabhängige Literaturveranstaltung dieser Art.

Sie ist auch eine der originellsten Straßenpartys, denn selbst, wenn sie an die 20.000 Besucher in die Buchhandlungen, Bibliotheken, Kirchen, Kindergärten, Bars und Restaurants entlang der Straße lockte, hatte man als Besucher selten das Gefühl, in eine literarische Großveranstaltung geraten zu sein, oder dass Menschen hektisch von Laden zu Laden rennen, um gezielt das Beste absahnen zu wollen. Eher wirkte das Publikum, als wohne es einfach hier und wolle entspannt bummeln, unterwegs essen, hier und da verweilen und zuhören, wenn es sich lohnt.

Kreuzberg jetzt hip

Am Samstag, 18. Mai, wird bei der Langen Buchnacht in der Oranienstraße (und auch einigen Straßen und Plätze drumherum) in Masse gelesen. Das macht man in diesem Jahr zum 21. Mal, das Programm startet um 13 Uhr und endet irgendwann nach 24 Uhr im Zum Goldenen Hahn, der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist traditionell frei.

Zwischendurch kann man auch mal Pause machen beim Belesen werden, um 22 Uhr in der St. Thomas Kirche am Mariannenplatz mit einem Orgelkonzert mit Bach-Musik. Gelesen wird in der Kirche aber gleichfalls, um 20 Uhr gibt es dort zum Beispiel ein Gespräch mit Jana Hensel über ihr mit Wolfgang Engler verfasstes Buch "Wer wir sind".

Darum war die Trauer groß, als der Verein Lange Buchnacht, der sich vor allem aus Buchhändlern aus dem Kiez zusammensetzt, im Mai 2018 bekannt gab, aufgeben zu wollen. Der ursprüngliche Grund für den Lesemarathon habe sich überholt, hieß es. Kreuzberg sei jetzt „hip“.

Für die neuen Organisatoren dagegen, die sich daraufhin zur Übernahme meldeten, war die Gentrifzierung im Kiez eher ein Grund, an der Langen Buchnacht festzuhalten als sie abzuschaffen. Die Theaterpädagogin Anna Koch und der Bühnenbildner, Regisseur und Galerist Moritz Pankok wissen, wie es bestellt ist in ihrem Viertel. Seit Anfang 2018 leiten sie im Kollektiv mit vier weiteren Theatermachern das tak Theater Aufbau Kreuzberg im Aufbauhaus, Pankok kuratiert außerdem die Ausstellungen in der Galerie Kai Dikhas, in der zeitgenössische KünstlerInnen der Sinti und Roma aus ganz Europa zu sehen sind. Beide gehören außerdem zu den Gründungsmitgliedern des Bündnisses Die Vielen, das bundesweit Zeichen setzt für Solidarität unter Kulturschaffenden, die es zunehmend mit Interventionen von Rechts zu tun bekommen. „Wir fanden, dass wir dem Stadtteil etwas schuldig sind“, sagen sie und beschreiben die Lange Buchnacht nach wie vor als sehr passend zu ihrer Straße. „Die Veranstaltung ist ja nicht kuratiert“, sagt Pankok. „Es gibt nur eine Deadline, jeder kann sich anmelden“, fügt Koch an. „Wir achten eigentlich nur darauf, dass es keine rechten Inhalte gibt.“

Tatsächlich lässt das, was sich da im Programm der 21. Langen Buchnacht angesammelt hat, Hoffnung aufkommen für die Zukunft der Oranienstraße: Wieder sind es über 60 Veranstaltungen an über 25 Orten, die die Leute bei freiem Eintritt am Samstag auf die Straße und in die Locations locken sollen. Es gibt Kleines und Großes, es gibt Lesungen aus Esoterik-Büchern, aber auch Namen wie Jan Wagner und Ines Geipel. Florian Günther, der Verleger der zu unrecht wenig bekannten Zeitschrift Drecksack, liest Gedichte vor. Der Guggolz Verlag stellt sich vor, ein Ein-Mann-Verlag, der sich auf Wiederentdeckungen und Neuübersetzungen aus Ost- und Nordeuropa spezialisiert hat.

Wieder sind es über 60 Veranstaltungen an über 25 Orten, die die Leute am Samstag auf die Straße locken sollen

Alles beim Alten also bei der Langen Buchnacht? „Na ja“, sagen Anna Koch und Moritz Pankok. „Ein wenig Einfluss nehmen auf das Programm kann man ja schon“, erklären sie, „man kann zum Beispiel seine eigenen Netzwerke nutzen.“ Denn auch, wenn sie den Charme der Buchnacht sehr schätzen: Koch und Pankok hätten die Veranstaltung gern politischer. Kreuzberg sei ein Bezirk mit viel Geschichte, „da könnte es auf der Buchnacht neben literarischer Unterhaltung ruhig etwas politischer zugehen.“

Und so kommt es, dass es etwa in ihrem Theater, im tak, eine Veranstaltung einer mobilen Berliner Beratung gegen Rechtsextremismus geben wird.

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