Mobilität und Lebensqualität: Hinaus ins Urbane

Schon Robert Musil fragte, ob der soziale Fortschritt mit dem im Automobilbau Schritt halten kann. Überlegungen zu SUVs, Fahrrädern und Innenstädten.

Drei elektrische Lastenfahrräder fahren nebeneinander

Sind E-Bikes die neuen SUVs? Foto: dpa

Wie wollen Sie leben? – Im beschaulichen Städtchen Eislingen, zwischen Stuttgart und Ulm gelegen (ich hatte da neulich zu tun), wuchtet sich auf mächtigen Betonpfeilern eine Schnellstraße massiv bis direkt ins Zentrum hinein. Genau dort, wo in dem 20.000-Einwohner-Ort ein urbaner Raum entstehen könnte, zwischen Rathaus, Bahnhof und einem kleinen Stadtschlösschen, mündet diese Straße. Fußgänger drängt sie an den Rand.

Das ist Deutschland. Solche Verkehrslösungen auf Kosten sozialer Begegnungsmöglichkeiten gibt es unzählige. In der alten Bundesrepublik gehören sie auf jede gesellschaftliche Mind Map, die Stein und Beton gewordene Bewusstseinsstrukturen verzeichnen will. Im Osten wurden sie nach 1990 mit Hochdruck nachgeholt. Das war nämlich mal der Fortschritt: Hauptsache, die Autos kommen gut durch.

Wie mächtig ist diese Fortschrittserzählung noch? Die Zeichen sind uneindeutig. Wer in den Innenstädten einer deutschen Metropole wohnt, kann derzeit den Eindruck gewinnen, dass mit Hilfe von Diskussionen um Radwege und Begegnungszonen, Fahrverbote und innerstädtischen Geschwindigkeitsbegrenzungen die Hegemonie der Autos gerade gebrochen wird, zumal in Zeiten der Klimakrise – aber stimmt das auch? Gerhard Schröder mag zwar der letzte Mensch gewesen sein, der sich ausdrücklich als Autokanzler verstand, doch die Pendlerzahlen sind unverändert hoch, die Durchschnitts-PS-Zahlen steigen weiter, und ob die Autoindustrie den Sprung ins Nach-Petroleumzeitalter schafft, man weiß es nicht.

Der Kern dieser Fortschrittserzählung – ihr zufolge bewegen sich Menschen am besten wie Monaden durch den Verkehr von ihren Häusern im Grünen bis in die Tiefgaragen ihrer Arbeitsplätze – ist sowieso immer weiter gegangen. Gegenwärtig verkörpert er sich am massivsten in den SUVs: Autos, in die ein Mittelklassewagen von früher locker in den Kofferraum passt. Manche dieser Geschosse wirken längst wie knallbunte Jeff-Koons-Editionen dieser post­apo­kalyptischen Fahrzeugfestungen bei „Mad Max“.

Hauptsache, die Autos kommen gut durch. Wie mächtig ist diese Idee vom Fortschritt noch?

Na gut, das hier soll ja gar kein Anti-SUV-Text sein, sondern einer, der versucht, ein Stück weit unsere Gesellschaft zu verstehen. Und da kann man zum Beispiel in Eislingen sehen, was gesellschaftlich alles bei den SUVs mitfährt. Die Pendlerpauschale. Der Trend, raus ins Grüne zu ziehen. Eine Verkehrsplanung, die Begegnungen zwischen Verkehrsteilnehmern, so weit es nur irgend geht, zu verhindern versucht hat. Der Kleinfamilienkult.

Und auch das Modell der Nine-to-five-Jobs. Man begreift vieles nicht, wenn man nicht ins Kalkül zieht, dass die Leute teilweise sogar ganz gern im Stau stehen. Die tägliche halbe Stunde auf den Ausfallstraßen oder auf der A 40 ist die einzige Zeit, die die Menschen für sich haben, zwischen dem Büro mit den KollegInnen und dem auch nicht unanstrengenden Leben mit den Lieben zu Hause.

In Eislingen kann man inzwischen aber auch sehen, dass diese Fortschrittserzählung nicht mehr alles zur Seite drängen kann. Schon der Schriftsteller Robert Musil fragte sich irgendwo im „Mann ohne Eigenschaften“, ob der soziale Fortschritt eigentlich mit dem im Automobilbau Schritt halten könne. Das fragen sie sich in Eislingen und an vielen anderen Orten eben auch: Die Schnellstraße wird vielleicht zurückgebaut. Es gibt Pläne, nach denen das Zentrum fußgängerfreundlich und wirklich als so­zia­ler Raum gestaltet werden soll.

Mal sehen, was dabei herauskommt. Jedenfalls sind diese Pläne ein Zeichen dafür, dass es (wieder) ein großes Bedürfnis danach gibt, urbaner zu leben und nicht so zersiedelt, und dieses Bedürfnis regt sich offenbar nicht nur in den Szenebezirken der Großstädte. Innenstädte sollen längst wieder mehr können, als Shoppingketten zu beherbergen und nachts leer und kalt dazuliegen. Diese seltsame neugebaute Altstadt in Frankfurt am Main drückt, wenn auch mit fragwürdigen Mitteln, auch nichts anderes aus.

Tinder-Dates statt Schnellstraßen

Das sind keineswegs nur stadtplanerische Überlegungen. Dahinter arbeiten vielmehr vielleicht tiefgreifende Wandlungen der Mentalitäten, gefasst im Schlagwort der postdigitalen Gesellschaft. Die Digitalisierung führt eben nicht nur dazu, dass die Leute vereinzelt zu Hause auf ihren Sofas Netflix streamen, sondern auch dazu, dass sie sich wieder begegnen und untereinander mischen wollen, und zwar leibhaftig. Etwas platt formuliert: Wenn es auf Tinder matcht, muss man sich ja auch real treffen, um sich weiter kennenzulernen. Das geht unterhalb von Schnellstraßen halt nicht so gut.

Wer sich nach der Europawahl über den Niedergang der SPD und das Hoch der Grünen Gedanken macht, sollte nicht nur aufs Klimathema und das jeweilige Führungspersonal schauen, sondern auch auf solche Wandlungen. Was immer an den Innenstädten attraktiv ist – Radwege, Verkehrsregulierung, sozialer Mix, offene Räume – ist vielerorts lange Zeit gerade gegen die Betonfraktionen der SPD und ihre großen Lösungen aus Stadtautobahnen und homogenen Wohnkomplexen erkämpft worden. Die Grünen mit ihrem Setzen auf Kleinteiligkeit und lebensweltlichen Konzepten passen dagegen gut zum neuen Bedürfnis nach Urbanität.

Mit Postmaterialismus hat dieses Bedürfnis nicht unbedingt zu tun, mit Antikapitalismus schon gar nicht, dafür viel mit Wünschen nach Lebensqualität. Wer will, mag über die Bullerbühaftigkeit von jungen Eltern, die ihren Nachwuchs im Lastenfahrrad zum Wochenmarkt schieben, über Senioren, die im Park joggen, und Yogakurse im Stadtteilzentrum spotten. Das ändert aber nichts daran, dass dieser eher urbane Lifestyle zunehmend bis weit in die Mittelklasse hinein attraktiv wird. Mainstream, sagen manche mit abschätzigem Lächeln. Aber im Ernst, was ist gegen einen solchen Mainstream schon zu sagen, wenn er zudem noch sozial aufmerksam ist?

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Zeiten, in denen Hegemonien erodieren, sind interessant. Man darf sie sich nur nicht eindimensional vorstellen, also so, dass der lange Zeit hegemoniale Trend zu Autos und breiten Straßen nun durch einen eindeutigen Trend hin zu Fahrradautobahnen, autofreien Innenstädten und buntem sozialen Treiben sauber abgelöst werden wird.

Vielmehr laufen diese Trends nebeneinander her. Es wird Mischformen geben. Menschen, die es sich leisten können, werden am Wochenende ihre Fahrräder in die dann womöglich elektroangetriebenen SUVs packen und um den See radeln. Und auch auf den Radfahrwegen wird nicht alles harmonisch verlaufen: Wer im Auto ein unsoziales Arschloch ist, ist es auf einem 2.500-Euro-E-Bike (den SUVs unter den Rädern) womöglich auch, und dann auch noch mit gutem Gewissen.

Menschen sind schwierig. Auf jeden Fall stellt man sich unter gelingendem urbanen Leben längst wieder Menschen unter freiem Himmel und eine Mischung aus unterschiedlichen Verkehrsmitteln vor. Auch das ist Fortschritt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.