Heroische Landschaftsmalereien: Die Natur als Protagonist

Ruinen, Menschen, Engel: Nicolas Poussins Gemälde „Landschaft mit Matthäus und dem Engel“ von 1640 erzählt uns von der göttlichen Ordnung der Dinge.

Ausschnitt des Gemäldes „Landschaft mit Matthäus und dem Engel“ von Nicolas Poussin. Ein Engel steht neben Matthäus und diktiert ihm das Evangelium.

Nicolas Poussins Landschaft aus der römischen Campagna, mit Matthäus und dem Engel, Ausschnitt. Foto: Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Gemälde­galerie/ Jörg P. Anders

BERLIN taz | An einer Biegung des Tiber schreibt Matthäus das Evangelium auf, das ihm ein zarter Engel diktiert. Der von hellem Licht angestrahlte Engel leitet den Evangelisten an, mit dem Finger deutet er auf die Schrift. Mensch und Engel scheinen eine beinahe symbiotische Verbindung einzugehen inmitten verstreut umherliegender architektonischer Fragmente: Säulentrommeln, Quadersteine, Kapitelle.

Die Überbleibsel liegen in einem sachten Braun in der sandigen Erde, als seien sie dort gewachsen. Das Licht fällt gleichmäßig, die Szene ist klar. Die Betrachter sehen von draußen auf sie hinunter.

Die Biegung, die der Fluss in „Landschaft mit Matthäus und dem Engel“ aus dem Jahr 1640 nimmt, es hängt in der Berliner Gemäldegalerie, führt das Auge zu einer Stadt, die in Ruinen liegt. Sie ist sorgfältig gemalt, auf summarische Weise, geometrisch, fast kubistisch. Wir können sie als Rom identifizieren wegen des qua­dra­tischen Wehrturms Torre delle Milizie aus dem Hochmittelalter, auf dem Nero das verheerende Feuer von 64 vor Christus beobachtet habe, wie die Legende hartnäckig behauptet.

Obwohl dieser massive Turm ebenso wie die Gegend der römischen Campagna in verschiedenen Landschaften Nicolas Poussins wiederkehrt, scheint die Besonderheit dieser Orte zweitrangig zu sein. Ihre ideale Essenz wird herausgearbeitet: Kubus, Zylinder, Kugel, Kegel.

Rationale organische Ordnung

Poussin war dabei sicher in­spi­riert von den philosophischen Spekulationen seiner Zeitgenossen wie Descartes, Galileo oder Roland Fréart de Chambray (der seinerseits Poussin bewunderte). Sie betrachteten Gott als einen Geometer und postulierten, ohne Kenntnisse der Mathematik und ihrer geometrischen Figuren könne man nicht philosophieren.

In diesem Sinn war für Poussin die äußere Erscheinung der Dinge unvermeidlich mit ihrer rationalen organischen Ordnung verbunden. So sind die Orte in seinem Gemälde von einer universellen Sprache durchdrungen, in der jede Form auch ein Modell ist.

Diderot nannte Poussins Figuren „naiv“. Sie seien „auf perfekte und reine Weise, was sie sein müssen“

Das soll nicht heißen, ­Poussin hätte nicht wie viele andere Maler des 17. Jahrhunderts die Natur aus erster Hand studiert. Viele Zeichnungen bezeugen seine systematischen Studien und zeigen, wie er die naturalistische Repräsentation der Natur meisterte. „Ich habe gesehen“, schreibt André Félibien, französischer Diplomat und einer von vier Biografen Poussins, die ihn zu Lebzeiten kannten, der den Maler in Rom traf, „wie er Steine, Lehmklumpen und Zweige studierte, um ­Felsen, terrassierte Grundstücke und Baumstümpfe besser darstellen zu können.“ Wir wissen, dass Poussin, schon 20 Jahre bevor er dieses Bild malte, Ausflüge auf den Ager Romanus machte.

Der deutsche Maler und Theo­retiker Joachim von Sandrat erinnert sich in seiner mehrbändigen Biografie von Poussin, wie er diesen in seinen ersten Römer Jahren aufs Land begleitete, um nach der Natur zu malen. Zusammen mit dem anderen jüngeren französischen Exilanten Claude Lorrain ritten sie bis Tivoli, in eine noch unkultivierte Gegend. Es war vielleicht nach einer dieser Exkursionen, als Poussin sagte: „Ich habe nichts unbeachtet gelassen.“

Sekretär des Papstes

Dennoch geht es Poussin in seiner „Landschaft mit Matthäus und dem Engel“ nicht darum, eine bestimmte Zeit, einen existierenden Ort oder eine typische Vegetation wiederzugeben. Seine minutiösen Studien sind gegenwärtig, aber sie dienen lediglich als Vehikel für etwas ganz anderes. „Landschaft mit Matthäus und dem Engel“ gilt als die erste seiner „klassischen“ oder „heroischen“ Landschaftsmalereien, die Poussin entwickelte, bis sie zu seiner quintessenziellen künstlerischen Errungenschaft wurde.

Das Bild gehört vermutlich zu einer unvollendeten Serie über die vier Evangelisten, es besitzt ein Pendant aus demselben Jahr, „Landschaft mit dem hl. Johannes auf Patmos“. Seit dem Tod ihres Auftraggebers und ersten Besitzers im Jahr 1644, nur vier Jahre nach ihrer Entstehung, waren die beiden Bilder kaum mehr vereint. Giovanni Maria Roscioli war Sekretär von Papst Urban VIII. und Kunstsammler. Er zahlte Poussin im Oktober 1640 für beide Bilder 40 Écus. Wenig später ging Poussin nach Paris, wo man ihm das Amt des Kunstministers angeboten hatte. Er kehrte aber schon nach zwei Jahren nach Rom zurück und verließ Italien nie wieder.

Auch der Evangelist Johannes ist beim Schreiben abgebildet, während ein Adler, sein Attribut, sich von ihm entfernt. Johannes hat sich auf die griechische Insel Patmos zurückgezogen, wo auch er von architektonischen Fragmenten umgeben ist, „als könne der Ort für heiliges Schreiben, für das Poem der Offenbarung nur ein Ruinenfeld sein“, wie Louis Marin schrieb.

Während der Fluss bei Matthäus zu einer Ruinenstadt führt, erheben sich hinter Johannes und einem Vorhang aus Bäumen ein Obelisk und ein Tempel am Meeresufer, wo wir in weiterer Entfernung eine Stadt voller Menschen sehen: mit Wohnhäusern und Palästen.

Figuren wie gemeißelt

Die Gemälde aus dem Jahr 1640 scheinen den Moment zu markieren, in dem sich das Konzept und die Rolle von „Natur“ im Bild für Poussin ändern und Schritt für Schritt in einen eigenständigen Protagonisten verwandeln, als Bildelement den Figuren, die das Bild bevölkern, ebenbürtig. Natur wird nicht mehr länger beschrieben, sondern vielmehr in eine neue Form überführt.

Die Landschaft, die wir sehen, ist still. Das Wasser des Flusses bewegt sich nicht. Der Wind weht nicht durch die Bäume. Was unterscheidet das Wasser vom Stein? Was die polierten Säulen von den Gestalten des Evangelisten und des Engels? Mensch und Objekt, Natur und Architektur vermischen sich und tauschen ihre Positionen. Der Fluss erscheint beinahe fest, die Ruinen wachsen organisch aus der Erde und beleben den Vordergrund des Bildes. Die Figuren scheinen weniger gemalt denn in Stein gemeißelt zu sein.

Das Gemälde ist wie ein Mosaik, in dem jedes Stück sein eigenes Gesicht und seinen eigenen Charakter behält, schreibt Claude Lévi-Strauss über Poussin. Diderot nannte Poussins Figuren „naiv“, sie seien also „auf perfekte und reine Weise, was sie sein müssen“. Bevor er sich an ein neues Gemälde machte, formte Poussin aus Wachs kleine Figuren und platzierte sie in einem Kästchen. Er hüllte sie in Lumpen und modellierte den Faltenwuf mit einem Stab. Durch Löcher in dem Kasten konnte er den Lichteinfall gestalten und die Länge der Schatten messen.

Das dreidimensionale Modell ist im Gemälde noch deutlich präsent. Die Dreidimensionalität übermittelt die Überlegenheit der Welt über die Einzelnen. Die Individuen sind ruhige Skulpturen in einer gelassenen Szenerie: außerhalb der Zeit, ideal und ewig.

Fleischlich dargestellt

Ruinengleich sind Matthäus und der Engel vollständig isoliert. Es gibt kein Lebenszeichen, nur einen Überrest. Nahe den beiden nackten Füßen, die unter dem blau-orangefarbenen Gewand des Matthäus und neben dem elfenbeinfarbenen Kleid des Engels hervorlugen, als seien beide ein Körper, ist ein weißes Tuch auf einem Quaderstein drapiert. In seiner weißen Farbe spiegeln sich die Wolken am Himmel und das Engelskleid wieder, während die Falten einen liegenden Körper imitieren, enthauptet.

Vielleicht verweist das Tuch auf das Ende des Heiligen Matthäus, obwohl dieser der Tradition gemäß erstochen wurde, als er in Äthiopien eine Messe sprach, was Caravaggio in seinem Gemälde „Das Martyrium des hl. Matthäus“ in der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom sehr fleischlich dargestellt hat.

Für den schweizerischen Kunsthistoriker Oskar Bätschmann sind die Ruinen im Bild visuelle Metaphern für den „Schutt, den die Wechselhaftigkeit der Geschichte zurücklässt“. Ruinen wie die Schriften des Historiografen Matthäus werden bleiben, um Zeugnis abzulegen von der Vergänglichkeit des Lebens und der Dinge.

Matthäus’ Text ist selbst ein Fragment, eine Erinnerung an den flüchtigen Moment der verlorenen Rede des Engels. Das Schreiben ist wie dieses Gemälde aus Erinnerung und Sprache geboren, zwischen dem Leben – dem lebendigen Matthäus – und dem Tod – der Figur seines Todes.

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