„Miles spielte wie eine Steinschleuder“

In seiner Musik spiegeln sich viele Teile der Welt: Der österreichische Pianist und Keyboarder Joe Zawinul spielte mit Miles Davis und entwickelte mit seiner Band Weather Report den Fusionjazz. Ein Gespräch über den perfekten Ton, seine Auftritte als Weißer in Harlem und sein Verhältnis zu afrikanischer Musik

INTERVIEW MAX DAX

taz: Herr Zawinul, Sie sind 1959 nach New York gezogen, um Ihren Ehrgeiz herauszufordern, Sie waren in Wien ein anerkannter Pianist, aber die Musik spielte in den Staaten.

Joe Zawinul: Ich bin nach Amerika gegangen, um zu studieren, ich hatte ein Stipendium, das mich eine Weile über Wasser hielt. Vier Monate – das war meine Frist. Danach hätte ich letztendlich zurück nach Österreich gemusst. Also versuchte ich, diese vier Monate zu nutzen, denn ich wollte nicht zurück. Für die Zeit hatte ich 820 Dollar in der Tasche. Damit musste ich zurechtkommen.

Wie viel waren 820 Dollar damals wert?

Ein Hamburger hat damals 3,50 gekostet, eine Suppe 2 Dollar. Mit 820 Dollar kam man schon damals nicht weit. Du musst ja jeden Tag essen und wohnen.

Es heißt, Sie hätten im Birdland gewohnt – ein Manhattaner Jazzclub und zugleich das Epizentrum des Bebop.

Ich habe dort Klavierspieler spielen gehört, die waren wahnsinnig gut. Gar kein Vergleich zu Europa. Ich erinnere mich an Phineas Newborn, an Wynton Kelly, Tom Flanigan und Sonny Clarke. Einen nach dem anderen hat man da durchmarschieren sehen. Rückblickend betrachtet war das eine Blütezeit, eine Zeit, in der sich hochgradig individuelle Musiker tagtäglich miteinander auseinander gesetzt haben und so gewachsen sind.

Heute scheint man genau das Gegenteil zu praktizieren: Größe als Konkurrenz wahrzunehmen.

Heutzutage spielt ja einer wie der andere, die meisten sehr gut. Aber darum ging’s damals gar nicht. Wie persönlich einer spielte, darum ging’s. Früher hatte jeder Pianist seinen eigenen, persönlichen Anschlag. Da konnte ich anhand des Klangs eines Akkordes sagen, wer ihn gespielt hat. Das Leben prägt die Persönlichkeit, und die Persönlichkeit macht den Klang aus. Eigentlich ist das eine ganz einfache mathematische Gleichung.

Und die Auflösung dieser Gleichung lautete?

Erfolg. Wer diese Gleichung auflöste, hatte Erfolg.

Als dann klar war, dass Sie in Amerika bleiben würden, freundeten Sie sich bald mit Herbie Hancock an. Gemeinsam hätten Sie keinen Auftritt von John Coltrane und Miles Davis verpasst – sagt Hancock.

Das stimmt. Wir sind beide ziemlich zur selben Zeit nach New York gekommen und waren viel nachts unterwegs. Wir haben ja auch nicht weit voneinander entfernt gewohnt. Wir waren unbekannte Musikstudenten, und überhaupt war er ein sehr gescheiter Bursch. Die Musik vom Skriabin hat ihm gefallen und die Musik vom Ravel. Weder Herbie noch ich haben damals einen Namen gehabt.

Wie bekam man einen Namen?

Ich hatte recht bald eine ziemlich gute Reputation als Begleiter, als Sideman. Das ist einer, der adaptiert, der sich anpassen kann, aber dann, wenn es drauf ankommt, seine Stimme hat. Sich anpassen zu können ist der Beweis, dass man versteht, worum es geht. Eine Stimme zu haben bedeutet, dass man eines Tages kein Sideman mehr sein wird, sondern Solist oder gar Bandleader.

Was mich von den meisten anderen unterschieden hat, das war der Umstand, dass ich über meine Rolle als Sideman hinaus für die Sängerin Dinah Washington geschrieben und arrangiert habe. Da habe ich als Weißer im Apollo Theater in Harlem die Schwarzen dirigiert. Das war damals ein sehr ungewöhnliches Bild und hat Leute wie Miles Davis ein Auge auf mich werfen lassen.

Miles Davis hat in seiner mit Quincy Troupe verfassten Autobiografie geschrieben, dass er sein Trompetespiel wie seine eigene Stimme betrachtet hätte.

Das würde ich so unterschreiben. Ein guter Ton muss wie eine Stimme sein. So ist es.

Auch ein Ton vom elektrischen Piano?

Jawohl. Das ist mir schon beim Cannonball Adderley damals aufgefallen, bei dem ich ja angefangen habe, das elektrische Klavier zu spielen. Indem ich da Dinge zusammenbrachte, die vorher keiner zusammengebracht hatte, hat es zum eigenen Ton beigetragen. Mit Cannonball Adderley haben wir vor The Who und vielen anderen englischen Supergroups gespielt. Das double billing von Rock- und Jazzbands der erste Schritt, der später zum Fusionrock geführt hat.

Wie kam es, dass ausgerechnet Sie immer an der Schnittstelle saßen – sie haben ein Jahrzehnt später mit The Weather Report die erfolgreichste Fusion-Band aller Zeiten gegründet.

Das lag an einem Stück, das ich für Cannonball Adderley geschrieben habe, „Mercy, Mercy, Mercy“. In diesem Big Hit hörte man zum ersten Mal ein manipuliertes elektrisches Klavier in einem Jazzstück – das war ein Schritt weiter als nur auf diesem zu spielen. Miles hat ja binnen einer Woche, nachdem er mich spielen hörte, Herbie ein elektrisches Klavier gekauft.

Die meisten Musiker, die durch Davis’ Band gegangen wären, sind selbst zu Bandleadern erwachsen.

Um das geht’s. Sonst kann man es ja gleich sein lassen.

Hat Miles Davis seine Sidemen gewissermaßen auf das Leben als Bandleader vorbereitet?

Nein. Niemand bereitet niemanden vor. Das erfolgt automatisch durch die Zusammenarbeit mit einem großen Künstler. Das größte Talent, das Miles meiner Meinung nach hatte, war, dass er die Größe in anderen erkannt hat. Bei jedem. Das war aber nicht nur selbstlos. Es geht immer um die Kunst. Indem er das Beste aus uns herausholte, machte er seine eigene Musik besser. Ich sage immer: Sogar ein Zwerg auf den Schultern von einem Giganten sieht weiter als der Gigant. Wir haben auf Miles’ Schultern gestanden und haben weiter sehen können als er. Was wir gesehen haben, das hat er zunächst in seine Musik einfließen lassen. Und später dann haben wir, auf eigenen Füßen, unsere eigene Reise angetreten. Miles hat nie viel mit uns über Musik geredet.

Er spielte stets auch nur wenige Noten.

Die ganze Problematik des Jazz heute liegt ja darin, dass die Leute alle rumspielen, alles voll spielen, weil ihnen nichts einfällt. Die Leute heute können nicht mehr ruhig warten. Sie dudeln. Miles hingegen war immer sehr konzentriert; wie eine Steinschleuder setzte er stets die volle Konzentration in jede einzelne Note, die er spielte.

Was haben Sie von Miles Davis gelernt?

Sicherlich Dinge wie Körpersprache oder dass man seiner Intuition folgen soll. Man verschwendet zu viel Zeit, wenn man durch Labyrinthe gehen muss, nur weil man mit den falschen Leuten zusammenarbeitet. Ich habe das mit Nat Adderley, dem jüngeren Bruder vom Cannonball erlebt, der ihm einredete, dass man nicht zu modern werden dürfte, dass man sich besser festhalten sollte an dem, was man hatte. Das hat die Entwicklung der Cannonball Adderley Band gebremst.

Wenn man solcher Situationen gewahr wird, muss man Entscheidungen treffen. Ganz anders war die Erfahrung mit Wayne Shorter, als wir gemeinsam Weather Report führten, denn Wayne war ein mutiger Mann und nicht umsonst der Hauptschreiber in Miles’ Band gewesen: Da haben wir alle Regeln hinter uns gelassen, und das hat den Leuten zunächst gar nicht gut gefallen.

Später dann aber doch.

Ich erinnere mich an unsere ersten Auftritte in New York, unsere erste Platte war gerade draußen, da kamen ganz zu Anfang abgezählte 14 Besucher. Ich dachte nur: Leck mich, das ist eine Katastrophe! Ich war es ja nicht gewohnt, vor so wenigen Leuten zu spielen. Doch wir hatten Glück.

Der Kritiker Robert Palmer schrieb in der Village Voice einen Artikel, der uns viele Türen geöffnet hat. Er schrieb: „Diese Musik wird in den Neunzigerjahren Volksmusik sein.“ Und so kam es dann ja auch.

Der Sound, den Sie da erfunden hatten, gilt für viele als Nukleus von Crossover-Rock. Dennoch haben Sie dann auch den Weather Report irgendwann hinter sich gelassen, haben in den Neunzigern mit dem Joe Zawinul Syndicate eine der ersten international erfolgreichen Weltmusik-Bands gegründet. Viele Ihrer Jazzfans konnten und wollten Ihnen nicht mehr folgen.

Für mich ist das nur eine ganz normale Weiterführung der Musik. Als ich als junger Bub nach Amerika gekommen bin, habe ich Bebop, Amerika und die schwarze Musik imitiert. Aber das erste Stück, das ich jemals geschrieben habe, hat „Mekka“ geheißen. Das hat nichts mit der islamischen Religion zu tun, ich bin ja katholisch, aber fasziniert hat mich die arabische Welt schon. Einfach, weil sie anders ist. Unsere österreichische Volksmusik ist auch eine Mixtur aus ungarischen und tschechischen Einflüssen. Ich will damit sagen: Eigentlich war ich immer am Zusammenführen unterschiedlicher Elemente interessiert.

In Ihrer Band haben Sie Musiker aus allen Kontinenten versammelt – und jeder bringt seine Musik mit ein. Weltmusik unterliegt der Gefahr, sehr schnell beliebig zu klingen, wenn sie in westliche Formen aufgeht.

Ich nehme Leute, weil sie meine Musik spielen können – und die finden sich nun einmal sonderbarerweise verstärkt in Afrika. Viele Afrikaner sind mit der Musik vom Weather Report aufgewachsen. Speziell das Album „Black Market“ hat dort als raubkopierte Musikkassette seine Spuren hinterlassen.

Dieser Umstand hat zunächst dazu geführt, dass ich Mitte der Neunziger in Paris mit Salif Keita zusammenkam und für ihn das Album „Amen“ produzierte – das seinerzeit als epochemachende Weltmusikplatte ausgezeichnet wurde. Umgekehrt funktioniert es genauso: Leute wie Keita bringen das Verständnis für meine Musik mit, aber sie interpretieren meine Musik in der Art und Weise, wie sie daheim aufgewachsen sind. Es sind meine Arrangements und meine Kompositionen, ich habe alles aufgeschrieben, aber jeder bringt seine Einflüsse mit. Ich lasse diese Interpretationen aber zu, denn schließlich habe ich sie ja beeinflusst.