kolumne schlagloch
: Koloniale Sommermärchen

Brüssel und London einmal anders betrachtet: Ein Besuch in den Palästen weißen Begehrens ist auch eine Reise durch Schuld und Verdrängung

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hat sich als Auslandsreporterin vor allem mit muslimischen Gesellschaften befasst und schreibt Bücher. Zuletzt: „Der neue Iran“ (2017/2019). Im Herbst erscheint: „Der lange Abschied von der weißen Dominanz“ bei dtv.

Die Schlagloch-Vorschau:

20. 8. Jagoda Marinić

27. 8. Nora Bossong

3. 9. Mathias Greffrath

10. 9. Georg Diez

17. 9. Georg Seeßlen

24. 9. Ilija Trojanow

1. 10. Hilal Sezgin

Vor dem Königspalast in Brüssel stand ein schwarzer Wachsoldat; über die Blumenrabatten hinweg war er nur von Ferne zu sehen, doch hob ihn das weiße Wachhäuschen in seinem Rücken optisch hervor, ebenso die weißen Utensilien an seiner Gardeuniform.

Der Anblick traf mich unvorbereitet. Sagte er vielleicht etwas Neues über Belgiens Verhältnis zur kolonialen Vergangenheit? Eher nicht. Wenige Schritte weiter stand das Reiterdenkmal Leo­polds II.; der Bärtige hoch zu Ross, als wäre nichts gewesen. Kein Täfelchen, kein Wörtchen wies darauf hin, dass der König Millionen von Toten in seinem Freistaat Kongo zu verantworten hat. Am Sockel nur der Hinweis, Kupfer und Zinn für die Statue stammten „aus dem belgischen Kongo“, aus Ober-Katanga.

So ist das also: In Brüssel, der administrativen Hauptstadt unseres Europas, wird einem Monster der europäischen Kolonialgeschichte Respekt gezollt, und keineswegs nur mit diesem einen Denkmal. Abgehackte Kinderhände für Kautschukprofite? Gelegentliche Graffiti zum Thema werden säuberlich weggeschrubbt.

So unübersehbar Leopold, so schwer auffindbar der „Square Patrice Lumumba“: ein trostloser Fleck Straßenraum zwischen Müllcontainern und dem Aufzugschacht zur Metro. Dem ersten Premierminister des unabhängigen Kongo haben die Nachfahren seiner Mörder einen Ort zugeteilt, der ihr Desinteresse schärfer konturiert als die vorherige Verweigerung des Gedenkens.

Eine reizende alte Bimmelbahn brachte mich hinaus nach Tervuren, wo sich Leopold aus den Kautschukprofiten einen Kolonialpalast gönnte, heute das weltgrößte Zentralafrika-Museum mit sagenhaften 180.000 Objekten. Nach fünf Jahren Umbau spürt man das Bemühen, sich von der Vergangenheit abzusetzen, doch ohne ihr wirklich ins Gesicht zu sehen.

In der zentralen Rotunde des königlichen Museums stehen die Skulpturen des Ensembles „Belgien bringt dem Kongo die Zivilisation“. Die belgischen Wohltäter sind vergoldet und allesamt größer als die Afrikaner, nackte, dunkle, muskulöse Körper bei manueller Arbeit. Das Ensemble wird als Propaganda ausgewiesen, steht aber gleichwohl unter Denkmalschutz. Was genau wird hier geschützt? Als der Bildhauer Arsène Matton im frühen 20. Jahrhundert die Skulpturen schuf, war Leopold tot, Kongo nunmehr staatliche Kolonie, und die furchtbaren Verbrechen im Freistaat waren international bekannt. Die Rotunde war schon damals ein opulentes Zeugnis der Verdrängung, und selbige genießt nun den Schutz.

Eine neue helle Holzskulptur des kongolesischen Künstlers Aimé Mpane fügt sich farblich harmonisch ein in die hohe Rotunde. Der dunkel-gedrungenen Körperlichkeit der kolonialen Plastiken wird der afrikanische Mensch als großer Kopf, als Vergeistigter entgegengesetzt. Ein dekorativer, höflicher Einspruch. Solche Interventionen sind nun à la mode; sie wirken wie bestellte und bezahlte Feigenblätter.

In einem „Korridor der Erinnerung“ sind an der Wand seit jeher die Namen von Belgiern verzeichnet, die für die Kolonie starben. Auch hier durfte Kunst dezent ergänzen: Bei einem ganz bestimmten Sonnenstand sind auf derselben Wand nun die Namen von Kongolesen zu lesen, die auf einer „Völkerschau“ in Tervuren ihr Leben ließen. Die Installation deutet an, dass es immer noch ganz bestimmter Bedingungen bedarf, um die Opfer des Kolonialismus sichtbar zu machen. Und ja: Meistens sind sie unsichtbar, auch in diesem Korridor.

Draußen in der königlichen Parkanlage stand in Wartestellung eine noch unfertige Skulpturengruppe des Kongolesen Freddy Tsimba; Frauen und Kinder als kopflose Skelette, die Beine gespreizt wie zur Leibesvisitation, so lehnten sie an der Außenmauer des Palastes. Von Weitem schien es, als versuchten die dürren Gestalten den monumentalen Museumsklotz beiseitezuschieben, eine rührend lächerliche Anstrengung. Dieses Bild blieb haften, mehr als alles andere. Ich nahm es mit nach London, zum nächsten Palast weißen Begehrens.

Mit Ehrfurcht gebietender Strenge blickte eine hohe Basaltstatue auf die Menschenmassen zu ihren Füßen. Die Ahnenfigur der Osterinsel, ein ganzes Jahrtausend alt, zählt zu den zehn „Must-see“ des British Museum, und wer nicht weiß, dass die Indigenen von Rapa Nui sie zurückfordern, wird es hier nicht erfahren. Die Strategien, mit dem Tod umzugehen, seien von Ort zu Ort verschieden, wird der Besucher belehrt, und in diesem nonchalanten Rahmen ist die Entführung von Ahnenstatuen anscheinend schlicht eine westliche Kulturpraxis.

Im British Museum wird ein Zeitalter der Aufklärung zelebriert, in dem Eroberungen noch „discovery“ heißen

Attraktiv ausgeleuchtet die Büsten und Reliefplatten aus dem einstigen Königreich Benin, die durch eine sogenannte britische Strafexpedition nach Europa kamen und heute Symbol der Debatte um die Rückgabe von kolonial Geraubtem sind. Eine Dame vom Museum, die durch die Afrika-Abteilung führte, wurde bei diesem Thema dezidiert schmallippig. Es sei ihr nicht erlaubt, über Politisches zu sprechen! Afrikanische Besucherinnen fotografierten ihre Kinder vor den Büsten.

Im einstigen Bibliothekssaal des Museums wird mit der gediegenen Aura von Büchervitrinen und Folianten ein Zeitalter der Aufklärung zelebriert, das nur schönste gelehrsame Errungenschaften kennt. Eroberungen heißen immer noch „discovery“, Entdeckung. Wenn Brüssel die Halbherzigkeit der Aufarbeitung symbolisiert und die Verharmlosung des Erbes, steht London für eine tollkühne Leugnung kolonialen Unrechts. Das British Museum erklärt sich schlicht für nicht betroffen vom postkolonialen Geplänkel. Stattdessen ein LBTQ history trail durchs Haus.

Die meisten weißen Briten sind immer noch stolz auf das Empire. Und die Belgier? Stolz können sie auf das Herz der Finsternis schwerlich sein. Sie stellen einen schwarzen Mann vors Schloss, und dann muss es aber auch mal gut sein.