Die Schwäche der Herzen und der europäischen Hinterwäldler

Damir Karakaš kann mit kleinsten Beobachtungen die größte Beklemmung auslösen. Sein kurzer Roman „Erinnerung an den Wald“ entfaltet eine umfassende Tragödie zwischen Vater und Sohn

Damir Karakaš: „Erinnerung an den Wald“. Aus dem Aus dem Kroatischen von Klaus Detlef Olof. Folio Verlag, Bozen 2019. 152 Seiten, 20 Euro

Von Doris Akrap

Die Wahrscheinlichkeit, dass man in einem mitteleuropäischen Gebirgswald auf einen Bären trifft, ist ziemlich gering. Auf dem Balkan ist sie zwar noch etwas höher, aber auch hier ist die Drohung, nicht zu tief in den Wald zu gehen, weil sonst der Bär kommt, mittlerweile eine eher leere. Im Gegensatz zum europäischen Waldbär hält sich der europäische Hinterwäldler aber immer noch ganz gut.

Der kroatische Schriftsteller Damir Karakaš braucht in „Erinnerung an den Wald“ nicht mal 150 Seiten, um seinen Lesern die Welt der Bergbauern im kroatischen Hinterland als das zu beschreiben, was sie größtenteils ist: patriarchal, brutal, erbarmungslos engstirnig und abergläubisch. Noch heute gelten in den Dörfern der Bergwelten des Balkans Magie und Zauber mehr als ein ausgebildeter Arzt.

Karakaš erzählt aus der Perspektive eines Teenagers, wie menschenfeindlich die Menschen am Waldrand sein können. Der Vater des Ich-Erzählers hält seinen Sohn für lebensunwürdig, weil der, durch einen Herzfehler geschwächt, ihm keine Hilfe bei der schweren Arbeit mit Heu und Stroh, Kühen und Hühnern, Holzhacken und Hausbauen ist. Der einzige Wunsch des Sohnes ist, im Wald auf einen Bären zu schießen und mit dieser Trophäe auf der Schulter nach Hause zu kommen. Das allein, so denkt er, könnte seinen Vater dazu bringen, mit ihm nächtelang unter dem Pflaumenbaum zu sitzen und Schnaps zu trinken. Also, ihn zu lieben.

Nähe empfindet der Sohn nur, wenn er hört, wie die Nachbarn seinen Vater beschimpfen, weil bei ihnen immer die Glühbirne flackert, wenn der aufs Klo geht. Seine Wasserpumpe verbraucht zu viel Strom. „Mir gefällt es, wenn sie uns verfluchen; sie auf der einen, ich und Vater auf der anderen Seite: dann fühle ich die größtmögliche Nähe zu meinem Vater.“

Alles, was der Sohn versucht, um seinem Vater zu gefallen, geht schief. Bis ihm ein Freund von Proteinen erzählt, die er einnimmt, damit die Muskeln schneller wachsen und ihm zwei Eimer voll ausgehärtetem Beton, in dem ein Holzstock klemmt, schenkt – als Hantel­ersatz, um damit zu trainieren. Der Sohn schluckt Proteinpulver und trainiert Muskeln und schuftet einige Tage so sehr, dass der Vater beeindruckt ist: Er lässt die Mutter eine Flasche Bier für ihn bringen.

Doch die Geschichte endet dramatisch. Die Geschichte endet im Wald. Und wir werden am Ende wissen, was wir auch vorher schon taten: Weder Wald noch Proteinpulver sind gut für Herzschwache.

Das, so denkt er, könnte seinen Vater dazu bringen, mit ihm unter dem Pflaumenbaum zu sitzen

Damir Karakaš, Jahrgang 1967, verdiente jahrelang sein Geld als Akkordeonspieler in Frankreich, war während der jugoslawischen Zerfallskriege Journalist an den Fronten und kennt sich mit der Bergwelt aus: Er hat Landwirtschaft studiert und ist in einem kroatischen Bergkaff namens Plascica geboren, in dem nie mehr als eine Handvoll Leute gelebt haben. Karakaš steht in den meisten Buchhandlungsregalen Kroatiens an prominenter Stelle. In seinem einzigen bisher auf Deutsch veröffentlichten Roman „Ein herrlicher Ort für das Unglück“ (Dittrich Verlag, 2013) geht es biografisch angehaucht um die Geschichte eines aus dem Balkan kommenden Straßenkünstlers in Paris, der seinen französischen Traum verwirklichen will und die schönen, aber auch die sehr schwarzen Seiten entdeckt, vom Rassismus der Pariser zur Kriminalität seiner Landsleute.

Auch in „Erinnerung an den Wald“ kommt „die Stadt“ kurz vor. Es ist nicht Paris, sondern Zagreb, und auch sie ist zunächst ein verheißungsvoller Ort, um aus der rückständigen Welt des Vaters zu fliehen: Seine Tante ist weltoffen, erfüllt ihm alle Wünsche und küsst ihn zur Begrüßung. Das hat sein Vater nie getan. Aber eine einzige Beobachtung reicht, um ihn denken zu lassen, dass er auch hier nicht glücklich werden könne: Die Tante mag es nicht, wenn man beim Essen krümelt. Das ist dem traurigen Sohn noch unheimlicher als der dunkle Wald, und er kehrt zurück nach Hause.

Karakaš schafft es, in den kleinsten Beobachtungen die größte Beklemmung auszulösen. „Erinnerung an den Wald“ erinnert in seiner Beengtheit sowohl inhaltlich wie formal an Albert Camus’ „Der Fremde“. Sein kurzer Roman ist eine Parabel auf die Absurdität der menschlichen Existenz und die Unmöglichkeit väterlicher Liebe.