Neues Album von Jenny Hval: Fragmente von Liebe als Praxis

Produktion oder Reproduktion? „The Practice of Love“, Jenny Hvals neues Album, erzählt vom Nocherwachsenerwerden als Frau.

Porträt einer Frau

„The Practice of Love“ von Jenny Hval ist kein Selbsthilferatgeber, eher ein musikalischer Thriller Foto: Francesco Davison/Stereo Sanctity

Zur (Pop-)Prinzessin taugt Jenny Hval nicht, glücklicherweise. Gut vier Jahre ist es her, dass die norwegische Sängerin mit „Apocalypse, Girl“ auf dem Radar eines größeren Publikums aufgetaucht ist. In der Musik war sie damals schon länger zu Hause, zunächst als Sängerin einer Gothic-Band, später auch solo. „But I’m 33 now, that’s Jesus-age, and girl spaces come back to me“ lautete die zweifellos beste Zeile Hvals auf „Apocalypse, Girl“.

Ihr Selbstverständnis brachte sie damit so pointiert auf den Punkt, dass man der heute 39-Jährigen einfach zuhören musste, wie sie mit flötender Stimme weibliche Libido und männliche Verletzlichkeit besang, und wie sie für die Einführung eines neuen Genre plädierte, den „Soft Dick Rock“.

Anderthalb Jahre später ging sie als menstruierende Vampirin, als „Blood Bitch“ um, dechiffrierte Liebe und Begehren sowie die Sexualisierung von vor allem weiblichen Körpern in Zeiten des Kapitalismus. Seit „Blood Bitch“ sind ein paar Jahre vergangen. Hval ist älter geworden, ruhiger, sie hat ihr drittes Buch, „Girls against God“, veröffentlicht, einen im Norwegen der Neunziger spielenden Coming-of-Age-Roman aus weiblicher Perspektive, der von Magie, Musik und Subkulturen handelt. Autobiografisch? Nicht wirklich, aber aus ihrer Haut kann Hval ohnehin nie, in ihrer Musik so wenig wie in ihren Texten.

In jenem, der „The Practice of Love“ begleitet, beschreibt sie ihre Stimme als die einer einst wütenden Teenagerin. Viele Jahre später sei sie, „no longer angry, but still feeling apart from the mainstream … longing for community.“ Für ihr Album hat sie eine solche, offenbar weibliche gesucht und unter anderem in Vivian Wang von der Artrock-Band „the Observatory“ aus Singapur, der australischen Singer-Songwriterin Laura Jean Englert und der französischen Avantgardemusikerin Félicia Atkinson gefunden.

Jenny Hval im Song „Lions“

„I am, making room for tenderness making room for lovers“

Weil oder trotz dieser Unterstützung hört sich Hval auf „The Practice of Love“ so eingängig, so sphärisch, so poppig wie nie an. An die neunziger Jahre erinnernder Trance, softes Synthiegeplänkel schmeicheln sich ins Ohr hinein, lullen einen ein, doch das ist nur ein Trick, mit dem Hval ausprobieren zu wollen scheint, wie Avantgarde auch Mainstream sein kann. Jemand habe ihr einmal gesagt, nichts sei ein größeres Klischee als Songs über die Liebe, über den Tod, über das Meer zu schreiben. Hval tut also genau das und kehrt dabei die Vorzeichen um.

Romantischer Liebe stellt sie ein holistisches Konzept von Liebe und Intimität entgegen. „I am, making room for tenderness“, säuselt sie auf dem Eröffnungssong „Lions“, „making room for lovers“ und sich dabei durchaus kosmischen Rat. „Where is god“, fragt sie, Bäume, Gras, Wolken betrachtend, das Vinyl-Album kommt in einer Spezialedition mit acht dafür angefertigten Tarotkarten daher. Die neue, zugängliche Jenny Hval plädiert auf spirituelle Achtsamkeit und menschliche Innigkeit.

Ein Thriller über Geschlechterrollen

Anknüpfungspunkte für den feministischen, in diesem Fall völlig esoterikfreien Überbau liefert der Titel des Albums. „The Practice of Love“ ist nämlich keinesfalls von einem jener gerade so virulenten Instagram-Selbsthilferatgeber für ganzheitlich-selbstbewusste Lebensführung ausgeborgt. Hval zitiert vielmehr den Titel des gleichnamigen Films von Valie Export aus dem Jahr 1985, einem damals für den Goldenen Bären auf der Berlinale nominiertes Hybrid aus Thriller, Videokunst und Auseinandersetzung mit Gewalt in der Gesellschaft und Geschlechterrollen.

„The Practice of Love“ ist ein Album über das Nocherwachsenerwerden, über das Älterwerden als Frau und damit verbunden dem ewigen Thema des Mutterseins bzw. Nichtseins. In „Accident“ erzählt Hval von einer kinderlosen Frau, die im Badezimmer einer Airbnb-Wohnung eine Creme gegen Dehnungssstreifen findet, diese aufträgt und nichts spüre. Von einer, die sich fragt, wie sich tropfende Brustwarzen anfühlen mögen und wie sie es schaffte, nie versehentlich schwanger zu werden. „So many years. So little fruit.“

Jenny Hval: „The Practice of Love“ (Sacred Bones/Cargo)

Im enigmatischen Musikvideo zu „Accident“, das als ein Trailer zu einem noch zu veröffentlichten Dialog zwischen Hval und der Filmemacherin und langjährigen Freundin und Kollaborateurin Hvals Zia Anger über die komplexen Bezüge zwischen künstlerischer Produktion und weiblicher Reproduktion zu verstehen ist, spielt Angers Mutter die Hauptrolle.

Noch konkreter wird Hval im darauf folgenden titelgebenden Stück, das ein Gespräch Hvals und Englerts mit Sound und weiterem Text zur gar nicht mal so sperrigen Collage verschachtelt. „I have to accept that I’m part of this human ecosystem but I’m not the princess and I’m not the main character“, folgert Englert darin aus ihrem Dasein ohne Kind. Die Künstlerin, die sich der Mutterrolle verwehrt, ist nicht die Prinzessin, eher die Hexe. Vielleicht sogar der interessantere Part im Popmärchen, die Liebe, daran lässt Hval keinen Zweifel, schließt er dennoch mit ein.

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