„Diese Verherrlichung kommt von bestimmten Kreisen“

Die Brüder Humboldt werden vielfach als Humanisten gefeiert. Doch ihre Biografien sind widersprüchlich und im Kontext ihrer Zeit zu verorten, sagen die Kunsthistoriker Bénédicte Savoy und David Blankenstein

Foto: David Ausserhofer

Bénédicte Savoy47, ist Kunsthistorikerin und lehrt an der TU Berlin. Bundesweit bekannt wurde sie 2017, als sie aus dem Beirat des Humboldt Forums austrat, dem sie vorwarf, zu wenig Provenienzforschung zu betreiben.

Interview Susanne Memarnia

taz: Frau Savoy, Herr Blankenstein, Sie kuratieren eine Ausstellung zu den Brüdern Humboldt im Deutschen Historischen Museum. Zunächst: Welches Humboldt-Bild dominiert heute die öffentliche Wahrnehmung?

David Blankenstein: Das eine Bild gibt es nicht. Einerseits ist es ein bisschen steinern mit all den Monumenten, etwa vor der Universität. Andererseits ist viel passiert in den letzten Jahrzehnten: Große Forschungsprojekte, Neu­editionen haben viel getan hat für eine Erweiterung des Horizonts. Es gibt auch viel Neues in der Belletristik oder Andrea Wulfs Biografie, die das aktuelle Humboldt-Bild sehr bestimmt. Dazu kommt: Nicht nur Themen wie der Klimawandel werden an Humboldt herangebracht, sondern auch solche, die unser kulturelles Erbe betreffen, den Umgang mit außereuropäischen Regionen und Gesellschaften.

Bénédicte Savoy: Es hängt sehr davon ab, wen man fragt. Für uns Wissenschaftler kann man sagen, dass die Forschung sich durch digitale Editionen extrem gut an den Quellen entwickeln konnte. Auch durch Mehrsprachigkeit: Alexander hat ja sehr viel in Französisch geschrieben, das kommt jetzt immer mehr in der deutschen Forschung an. Also in der Forschung ist das Bild viel mehr an den Quellen verankert, daher divers und kein Monument.

Aber in der Öffentlichkeit?

Savoy: Das allgemeine Bild ist für mein Empfinden weniger steinern als kindisch. Wir haben da Humboldt-Comic-Figuren, die sehr stark schabloniert sind. Und es ist extrem unhistorisch. Wenn man jemanden fragen würde, wann die Brüder gelebt haben, würde ich mich wundern, wenn eine Antwort einigermaßen passt.

Was wird denn vergessen, wenn man an die Humboldts denkt? Gibt es Seiten, die man nicht so gern erzählen möchte?

Savoy: Diese Lesebrille „positiv/negativ“ ist auf keinen Fall unsere. Wir sind Historiker, keine Richter. Wir versuchen die verschiedenen Seiten zu zeigen – ob unsere Zeit sie jetzt als negativ beurteilt, ist eine andere Debatte. Wir zeigen einiges in den Leben der beiden Brüder, das gern selektiert wird, und anderes, das eher nicht erzählt wird. Wir versuchen sachlich zu schauen, in welchen politischen Kontexten haben sie gelebt, wo waren ihre Netzwerke. Wie nah musste man zum Beispiel einem König oder Kaiser wie Napoleon sein, um als Wissenschaftler voranzukommen, wie sehr konnte man sich entfernen von diesen Machtstrukturen?

Es wird immer gesagt, Alexander von Humboldt habe klar Position bezogen gegen Sklaverei und Kolonialismus. Gleichzeitig hat er mit dem spanischen Kolonialreich kollaboriert. Diese Seite ist schon unterbelichtet, oder?

Blankenstein: Richtig. Aber es gibt eben auch die Forschung, die solche Seiten wieder herausarbeitet, wenn sie nahe an den Quellen arbeitet. Kuba ist ein gutes Beispiel. Alexander von Humboldt war zweimal dort. Beim ersten Mal, das wissen wir aus seinem Tagebuch, hatte er schon im Vorfeld eine Namensliste von Leuten mit guten Kontakten. Das waren die Eliten, alles Personen, die Sklaven im Haus hatten oder sogar Sklavenhändler waren. Er wohnte auf seiner ersten Reise sogar bei einem Sklavenhändler – was heute wenige wissen. Aber das Thema Sklaverei reflektiert er kaum im Tagebuch. Er geht sogar auf Zuckerplantagen – reine Sklavenwirtschaft – und gibt Tipps zur Verbesserung der Öfen. Ihn interessiert die ökonomische Logik, sonst aber erst mal herzlich wenig.

Wie kam er dann zum Sklaventhema?

Blankenstein: Vor seiner zweiten Kuba-Reise war gerade die Insel Saint-Domingue, heute Haiti, unabhängig geworden – durch den ersten und einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand in der Geschichte der Menschheit. Unter diesem Eindruck ist Alexander nun sehr viel hellhöriger, geht für sich im Tagebuch der zweiten Reise verschiedene Argumentationen durch.

Das klingt nicht nach totaler Gegnerschaft zur Sklaverei.

Blankenstein: Man merkt tatsächlich erst im Laufe der Jahrzehnte, als er mehr unter dem Einfluss von britischen und US-amerikanischen Abolitionisten steht, dass er sich sehr viel präziser zu dieser Thematik deutet.

Savoy: Er reagiert eben sehr oft auf die Positionierungen hier in Europa. Sein Koordinatensystem ist nicht immer die Gerechtigkeit, die Wahrheit an sich, sondern wie sich seine Kollegen hierzulande oder in den USA positionieren.

Ist es dann ein Missverständnis, wenn er in Südamerika als Wegbereiter der Befreiung gefeiert wird?

Savoy0 Das ist auch eine Frage der Perspektive. Auch dort gibt es mehrere Stimmen, eine Polyphonie. Und zurzeit werden Stimmen lauter, die einem klarmachen, dass diese Verherrlichung von ganz bestimmten Kreisen kommt. Das ausgewogen darzustellen ist eine unserer Prioritäten in der Ausstellung. Wir werden zum Beispiel eine Sektion haben, die sich „Globale Interessen“ nennt – da geht es um die gerade erwähnte ökonomische Dimension. Und es geht um die besonderen Beziehungen Humboldts zu den kreolischen Eliten, die eben nicht indigen sind.

Foto: privat

David Blankenstein 40, ist Kunsthistoriker und Museologe. Er kuratiert die Ausstellung des ecuadorianischen Künstlers Fabiano Kueva im Humboldt Forum an diesem Wochenende.

Blankenstein: Das war für mich auch eine neue Entdeckung. In Ecuador und Mexiko haben mir verschiedene Forscher und Künstler wie etwa Fabiano Kueva erzählt, dass ihre Beschäftigung mit Alexander von Humboldt sich nicht, wie ich erwartet hätte, um den spanischen Kolonialismus dreht, sondern um die Nationalstaaten, die nach der „Befreiung“ vom spanischen Regime entstanden. Damals bauten die kreolischen Eliten Strukturen auf, die sich sehr auf Humboldt stützten, und sie waren es, die ihn als Nationalheld feierten. Aber auch da haben wir enorme Macht­asynchronitäten, und die indigene Bevölkerung hat, wie mir beschrieben wurde, sehr viel stärker unter den neuen Nationalstaaten gelitten als zu spanischer Zeit.

Zeigen Sie in der Ausstellung Objekte, die Humboldt auf seinen Reisen gesammelt hat?

Savoy: Ja, zum Beispiel in einer Sektion, die heißt „Ausweitung der Denkzone“. Da geht es um die Reisen der beiden Brüder, Wilhelm ist ja auch viel gereist. Beide haben gesammelt, materielle Objekte und immaterielle – zum Beispiel Sprachen beziehungsweise Bücher, Manuskripte. Alexander hat aber nicht so viel gesammelt, wie das später gemacht wurde bei wissenschaftlichen Expeditionen im 20. Jahrhundert. Oder wie zu seiner Zeit Lepsius in Ägypten.

Blankenstein: Er hat vor allem Pflanzen mitgebracht und Steine. Das war sein Basisprogramm, dass er diese Dinge sammeln würde, stand schon in seinem Reisepass. Davon zeigen wir einiges. Aber vor allem thematisieren wir die Transportwege dieser Objekt und ihre Bestimmung. Alexander entdeckt ja kein unbekanntes Territorium, alles ist schon kartografiert, er kann nur verbessern, was er vorfindet. In einem unserer Ausstellungsbereiche haben wir zum Beispiel eine Weltkarte, die gut verdeutlicht, was damals passiert.

Nämlich?

Es ist eine Karte der phytografischen Reiche, also der Pflanzenbestimmungsreiche. Da ist die Welt bunt aufgeteilt nach den weißen Männern, die diese Regionen bereist und die Pflanzen dort definiert haben. Es gibt das Reich von Linné, das bis Sibirien geht. Ale­xander hat immerhin einen kleinen Streifen in den Anden. Das ist die wissenschaftliche Erfassung, die eben auch eine Aneignung ist.

Wilhelm und Alexander von Humboldt, 22. 11. 2019 bis 19. 4. 2020, Deutsches Historisches Museum