Im Gnadental und im Kopf von Josef Stalin

Mit „Wolgakinder“ legt die russische Autorin Gusel Jachina einen epischen Roman über die wolgadeutsche Republik vor

Gusel Jachina: „Wolgakinder“. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag, Berlin 2019, 591 Seiten, 24 Euro

Von Katharina Granzin

Es gab einst eine deutsche Sowjetrepublik. Sie lag an der Wolga und existierte von 1918 bis 1941. Der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion bedeutete ihr Ende. Die Bewohner der „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“, die seit vielen Generationen im Land lebten, wurden als mutmaßliche Kollaborateure Hitlerdeutschlands unter Generalverdacht gestellt und sämtlich deportiert. Ihre Republik wurde aufgelöst.

Gusel Jachinas Fabulierkunst macht aus den dramatischen historischen Ereignissen ein episches, mit magischen Elementen ausgesponnenes Märchen. Zweifellos hat die Autorin zu Hause Marquez und Rushdie im Regal stehen. Die Handlung umspannt in etwa anderthalb Jahrzehnte und setzt kurz vor der Revolution ein. Ein wahrer Antiheld steht in ihrem Zentrum: Jakob Bach, ein Dorfschulmeisterlein im Dorf Gnadental an der Wolga, erhält den Auftrag, ein Mädchen zu unterrichten, das auf einem einsam gelegenen Hof am anderen Flussufer wohnt. (eine Urszene aus Salman Rushdies Roman „Mitternachtskinder“ wird hier paraphrasiert.) Bach soll der jungen Klara die Feinheiten der Sprache und der Zahlen nahebringen, doch zwischen ihm und seiner Schülerin ist stets ein blickdichter Vorhang. Es kommt, wie es kommen muss: Er verfällt der Unsichtbaren. Die wiederum flüchtet zu ihrem Lehrer, als ihr Vater sich anschickt, mit dem gesamten Hausrat nach Deutschland auszuwandern. Da sie keine Papiere hat, kann das Paar nicht heiraten, wird im Dorf gemobbt und zieht sich auf den abgelegenen Hof zurück, auf den sich nie ein Bewohner Gnadentals verirrt.

Ferne Rauchwölkchen

Nur in Andeutungen machen die Geschehnisse draußen in der Welt sich im einsamen Leben an der Wolga bemerkbar; Schiffe auf dem Fluss, Rauchwölkchen in der Ferne. Bis eines Tages die Wirren der Welt in Gestalt dreier ungewaschener Möchtegernrevolutionäre auf den Hof einbrechen. Neun Monate später kommt ein kleines Mädchen zur Welt.

Die Außenwelt und die historischen Geschehnisse werden in diesem dickleibigen Roman nur aus weiter Ferne gezeigt. Ausnahme bilden einige wenige Kapitel, die aus der Perspektive Stalins erzählt sind. Eine etwas erstaunliche dramaturgische Entscheidung, die natürlich darin begründet liegt, dass Stalin (aber ja erst nach Ende der erzählten Zeit) für das Schicksal aller Wolgadeutschen eine so schicksalhafte Rolle spielte. Trotz dieser inhaltlich begründbaren Herleitung liegen diese Kapitel insgesamt quer zum Rest des Romans. In den Kopf eines Diktators beim Billardspielen zu schlüpfen wirkt im Kontext unnötig banal. Mit magischem Realismus ist dem Bösen in der Geschichte nur schwer beizukommen.

Volkskundliches Wissen

Der Reiz und die ansonsten große Konsequenz des Buches liegt eben darin, dass hinter der vordergründigen Kulisse des einsamen kleinen Menschenlebens auf dem Lande ein riesenhafter Vorstellungsraum angedeutet wird, in dem sich Großes und Furchtbares abspielt. Heimliche Besuche Jakob Bachs im Dorf Gnadental liefern emblematische Szenen, die Hinweise geben auf den jeweiligen Zustand der Welt. Doch als Bach, den ein Schicksalsschlag in der Zwischenzeit gänzlich hat verstummen lassen, beim Milchklau für das Töchterlein erwischt wird, ist es vorbei mit der Weltabgewandtheit. Er gerät unter die Fuchtel des neuen Politkommissars, eines engagierten Idealisten, der begeistert entdeckt, dass der stumme ehemalige Lehrer nicht nur des Schreibens mächtig ist, sondern auch einen reichen Wissensschatz über die Sitten und Bräuche der Wolgadeutschen besitzt.

Der Einsiedler wird nun zum Chronisten, so gelingt es Gusel Jachina, ihre Erzählung auch noch mit volkskundlichem Wissen zu tränken; spielerisch, poetisch, kein bisschen belehrend. Es ist ein großes Verdienst, die Geschichte der Wolgadeutschen auf eine Weise literarisiert zu haben, die ein großes Lesepublikum ansprechen könnte. „Wolgakinder“ ist kein dramatischer Abenteuerroman, wie Jachinas Erstling es war. Aber es ist zweifellos ebenfalls ein großer Schmöker.