Der Soundtrack seiner Jugend

Theo Parrish ist ein legendärer DJ und House-Produzent aus Detroit. Im Club Griessmühle erinnert er drei Tage lang an das vor 50 Jahren gegründete Label Black Jazz Records und dessen Emanzipationsansatz

Nimmt die Tänzer*innen schon gern mal sechs Stunden mit auf die Reise: Theo Parrish an den Wheels of Steel Foto: Max Krüger

Von Philipp Rhensius

Mit Musik ist es wie mit dem Essen. Sie geht direkt vom Kopf in den Bauch, und ob man sie mag, ist eine Frage des Geschmacks. Es gibt jene, die schnell satt werden, und solche, die genau wissen wollen, was sie konsumieren. Woher die Musik kommt, aus welchen Zutaten sie sich zusammensetzt, auch, ob die an ihrer Herstellung Beteiligten fair bezahlt werden.

Dass das Bewusstsein beim Essen oft kritischer ist als bei Musik, liegt vielleicht daran, dass bei ihr Haben oft wichtiger ist als Sein. Das Produkt, der Song, das Album stehen im Fokus, weniger der soziale Kontext. Dass ethische Fragen in der sonst selbstreflexiven Clubkultur eher selten gestellt werden, soll kein Vorwurf sein, geht es auf dem Dancefloor doch zunächst um jene schöne Seinsvergessenheit, in der Körper sich in Beziehung setzen zum richtigen Beat. Körper sind nicht vom Geist getrennt und das Sein nicht vom Haben – am besten weiß dies der US-House-Produzent und DJ Theo Parrish, der deshalb als lebende Legende gilt.

Diskurse hat er nie vermieden – und zugleich stets mehr als nur den richtigen Beat komponiert. Bis heute haucht er seinen Klangmaschinen ein Leben jenseits des rein Menschlichen ein und stellt der Entfremdung des Menschen von seiner Welt keine langweilige „Echtheit“ oder Back-to-the-roots-Esoterik, sondern eine ermächtigende Künstlichkeit entgegen: Eleganter als in musikalischen Kleinkunstwerken wie „Carpet People Don’t Drink Steak Soda“ von seinem Debüt „Musical Metaphors“ (1997) klingt die Versöhnung der Maschinen mit den Menschen selten. Mit ihrem hirnkitzelnden Swing und den sich helixartig nach oben schraubenden Melodien klingen sie, als würde eine zehnköpfige Jazzband mit autonom gewordenen Drumcomputern improvisieren.

Auf dem Dancefloor wird der seit mehr als 30 Jahren aktive Detroiter für seine kongenialen DJ-Sets geliebt. Gut und gerne sechs Stunden nimmt er die Tän­zer*innen mit auf die Reise, für die er Tracks mithilfe des Equalizers bisweilen merkwürdig verfremdet. Dass die mystische, im Jetzt stattfindende Parallelwelt, die er dabei erschafft, oft aus Vergangenem zusammengesetzt ist, führt wieder zurück zum Sein. Sampling, also die Verwendung kurzer Song-Ausschnitte, die mit HipHop ganze Genres hervorgebracht hat, ist für Parrish eine sehr bewusste Praxis. House etwa entstand in den späten 1980er Jahren in Chicago und Detroit nicht nur dank neuer Drumcomputer, sondern auch dank Samples aus alten Funk-, Disco- oder Jazzplatten.

Parrish weist gern auf jene hin, die diese Platten ursprünglich mal eingespielt haben. Besonders am Herzen liegt ihm der Jazz der 1960er und 70er Jahre, mit dem er in Washington aufgewachsen ist. Um seinen alten Held*innen Tribut zu zollen, bringt er seit 2002 auf seinem Label „Sound Signature“ die Reihe „Ugly Edits“ in limitierten Vinyl-Auflagen heraus. Dafür poliert er im Studio alte Funk- und Jazz-Klassiker von Jill Scott, Etta James oder Harold Melvin auf. 2013 veröffentlichte er ein Mixalbum, das ausschließlich Stücke aus dem Roster des legendären Labels Black Jazz Records aus dem kalifornischen Oakland enthält.

Parrish ist ein treuer Fan des 1969 vom Jazzpianisten Gene Russell gegründeten Labels Black Jazz Records. Um dessen 50. Geburtstag zu feiern, hat ihn das deutsch-französische Künstlerkollektiv „JAW Family“ nach Berlin und Paris eingeladen, wo auch Jazz-Größen wie Jean Carn, Kellee Paterson oder Doug Carn auftreten. Es ist für den House-Künstler eine gute Möglichkeit, für die Sichtbarkeit eines Kontexts einzustehen, der oft verloren geht. Im Interview möchte er eigentlich nur darüber sprechen.

So wartet am anderen Ende des Skype-Mikrofons ein tiefenentspannter Mann, der mal mehr, mal weniger erfolgreich gegen die zwitschernden Vögel vor seiner Wohnung in Detroit annuschelt – und seine Worte so exakt abwägt, wie er seine Platten auf die Turntables legt. Er habe bei diesem Projekt einfach nicht Nein sagen können, sagt der 47-Jährige. „Wir sprechen hier von echten Legenden. Der Einfluss von Musikern wie Gene Russell und Calvin Keys war enorm, auf mich als Kind, aber auch auf die damalige schwarze Community. Black Jazz Records war der Soundtrack meiner Jugend. Sie standen damals weit außerhalb der Norm und dem, was in den 1970er Jahren üblich war.“ Üblich waren damals vor allem weiße Musiker*innen, die eine Unsichtbarkeit Schwarzer in der US-amerikanischen Öffentlichkeit widerspiegelten.

Mitte der 70er war der Höhepunkt der antirassistischen Bürgerrechtsbewegung, des Civil Rights Movement. „Die Musik des Labels hat meinen Eltern politisch sehr viel bedeutet. Sie war ein essenzieller Ausdruck des Selbstbewusstseins schwarzer Menschen und damit auch für den Kampf um ihre Freiheit und Gleichstellung.“

Doch lässt sich die glorreiche wie tragische Vergangenheit auch mit der nicht weniger konfliktreichen Gegenwart verbinden? Nach einer die übliche Länge überschreitenden Pause sagt Parrish: „Ich bin der Meinung, dass sich die Musik von früher und heute eigentlich nicht unterscheidet. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Musik heute oft ihrem Kontext entrissen wird.“

Die wenigsten seien sich bewusst, dass Jazz, Funk und Soul, Genres, die heute in der Clubmusik so gern gesamplet werden, mal der Sound einer Emanzipationsbewegung waren. Black Jazz Records war Teil einer Kultur, die unterdrückt wurde – und die immer noch unterdrückt wird. Musik sei derivativ, so Parrish, und in jeder Ära habe es Kräfte gegeben, die auf ihre Hörer eingewirkt haben. Es sei aber selten klar, was die Menschen, die sie spielten, wirklich durchgemacht haben. Parrish kommt ins Fabulieren: „Eigentlich sollten die gegenwärtigen Jazz-Stars wie Robert Glasper oder Gregory Porter die Musik des Labels neu auflegen, um die alte Message zu verbreiten. Ich bin überzeugt, dass Musik besonders jungen schwarzen Menschen helfen könnte, sie zu erziehen, wie sie damals mich erzogen hat. In Detroit, wo ich lebe, hört die Öffentlichkeit von diesen Kids fast immer nur im Zusammenhang mit Drogen und Kriminalität.“

Mitte der 70er war der Höhepunkt des Civil Rights Movement

Könnte die Clubmusik nicht auch dafür stehen? Parrish kann da nur still, aber nicht zynisch ­lachen. „House ist doch heute vollständig von Europa kooptiert. Es ist nicht mehr die Musik, die einst unterdrückten Minderheiten einen Safe Space des Selbstausdrucks ermöglichte, sondern ein Business – und das hat erst mal gar nichts mit der Befreiung von Menschen zu tun.“

Die Bedingungen seien aber heute auch anders. Menschen seien oft nicht mehr unterdrückt, sondern abgelenkt, sagt Parrish, dessen in den letzten Jahren immer wieder geäußerte Kritik an Smartphones im Club hier nachhallt.

Das richtige Einfühlen in die Menschen ist laut Parrish heute schwierig. „Wenn ich auflege, weiß ich gar nicht mehr, was die Menschen um mich herum denken oder fühlen.“ Was er jedoch wisse, ist, dass es einen großen Unterschied gebe zwischen den Menschen im Club, die tanzen müssen, und denen, die tanzen wollen. Letztere wollten eine gute Zeit haben, hätten sich gerade mit ihren Freunden getroffen und trügen ihre neuesten Schuhe. Erstere aber sind da, weil sie täglich mit Diskriminierung, mit rassistischen Anfeindungen kämpfen. In Detroit müssen die Leute tanzen, in Berlin können sie.

Doch bei aller Ernsthaftigkeit hat Parrish nie an Leidenschaft eingebüßt oder den Glauben an jene naive, aber wahrhaftige Message eines seiner frühesten Tracks verloren: „Heal Yourself and Move“.

Er wäre schon zufrieden, wenn möglichst viele in Berlin vorbeikämen und die Musik genießen. Wenn dann die Musik vom Bauch zurück in den Kopf geht, ist schon mal viel gewonnen.

Theo Parrish und JAW Family Reunion, 10. bis 13. Oktober, Griessmühle