Labyrinth mit doppeltem Boden

Treppauf und treppab bleibt der Mensch gefangen in Ohnmacht: Im Theater Osnabrück bereitet Dominique Schnizer eine „Kafka“-Uraufführung vor. Die Zeichen stehen auf Erfolg

Kaleidoskophaft, düster, labyrinthisch: das Bühnenbild von „Kafka“ Foto: Jörg Landsberg

Von Harff-Peter Schönherr

Es ist seltsam: Von der Bühne herab wirkt der Zuschauerraum des Theaters Osnabrück heute kleiner als sonst – bedeutend kleiner. Schmaler wirkt er, kürzer, flacher. Die roten Stühle stehen in Zwanzigerreihen, wie sonst auch, tief gestaffelt bis hinauf in den 2. Rang. Fast 650 Menschen passen hier hinein. Und dennoch ist da diese Enge. Gespenstisch ist das. Doch es gibt eine Erklärung. Denn hinter uns türmt sich das kaleidoskophafte, düstere, klaustrophobische Bühnenbild von „Kafka“: ein verwirrend gestuftes Labyrinth aus Gängen und Räumen, Podesten und Türen – und viel Platz ist ringsherum nicht.

Es ist eine schattenhafte, angstweckende Welt in Grau- und Brauntönen. Eine Welt verschobener Achsen, verzogener Winkel. Da ist ein spartanisches Bett. Da ist ein riesiger Haufen fortgeworfener Akten. Da ist ein Gewühl abgewetzter Stühle, übereinander gestapelt, ineinander verkeilt. Alles ist rissig, schrundig, roh. Ein Rohr bohrt sich bedrohlich durch den Boden, als Verweis auf die Industrialisierung, in der „Kafka“ spielt. Es ist eine beklemmende, zutiefst menschenfeindliche Welt.

Entworfen hat sie Christin Treunert. Und so kafkaesk – unergründlich bedrohlich – sie wirkt: Treunert würde dieses Adjektiv nie für sie verwenden. Aus Respekt vor dessen Bedeutungsschwere. Lieber sagt sie: „Kafkakosmos“.

Fünfeinhalb Meter hoch ragen die Wände von Treunerts „Kafkakosmos“ auf. Milchig sind sie, halbtransparent, sodass alles, was hinter ihnen vorgeht, schemenhaft zu sehen ist. „Das wird dann wie ein Unterbewusstsein wirken“, sagt Treunert, „wie eine zweite Handlung.“ Treppen neben Treppen, hinauf zur selben Ebene. Treppen gegenüber Treppen, manche eine Stufe hoch, andere zwei Stufen, andere sechs. Was hier wo beginnt und endet, was hier wie ineinander mündet? Ein Rätsel. Aber das ist das Dasein für den Menschen ja stets.

Noch steht dieser Kosmos hier zur Probe. Am Samstag hat das Stück Premiere. Noch ist die Bühne nicht ganz fertig. Denn bei der alten Standgarderobe und dem alten Ofen, bei den Bakelittelefonen und metallenen Schreibmaschinenmonstern wird es nicht bleiben. Maschinen werden Treunerts Kaleidoskop bevölkern. Einige sind reine Fantasy, zusammengesetzt aus Fundus-Funden. Für andere durchkämmen Requisiteure das örtliche Museum Industriekultur.

Schließlich spielt die Handlung zwischen dem Ende des Ersten und dem Vorabend des Zweiten Weltkriegs, und diese Schwere soll zu spüren sein. Der Mensch, gelähmt und zerrieben vom Mechanismus des Kollektivs, der Macht? Man spürt schon jetzt, umgeben von Technikern mit Akkuschraubern und Leitern: Unheimlich ist das.

Wenn der Vorhang sich hebt, werden seine fünf Räume sich drehen, vom Büro bis zum Esszimmer, sie werden sich drehen in all ihrer Kälte und Schwärze, als Symbol dafür, „dass nichts je aufhört, dass nichts je auserzählt ist, dass alles mit allem in Verbindung steht, auf immer“.

Es ist grandios, dieses Bühnenbild. Es ist kühn und es ist aufgeladen mit Sinnebenen, die Regisseur Dominique Schnizer, dem Schauspieldirektor des Hauses, eine extrem kraftvolle Inszenierung abverlangen. Wer sucht, findet Verweise auf Kafkas „Der Prozess“ und „Das Urteil“. An M. C. Escher und René Magritte hat Treunert sich orientiert, viele Surrealisten hat sie durchforscht für diese fahle Welt. „Bleiern werden die Gesichter hier wirken“, sagt sie.

Seit 2007 arbeitet Treunert mit Schnizer zusammen, für Luxemburg, für Weimar, Mainz, Hamburg, Bremerhaven, Münster, Braunschweig, Mosambik. Und wie Schnizer hatte Treunert ihren Erstkontakt mit Kafka während der Schulzeit. Aber während Schnizer Kafka schon damals faszinierend fand, „zwar ungeheuer ernst, aber zugleich hochkomisch“, habe sie, räumt sie ein, „erst abgewinkt, wie wohl die meisten, und ziemlich wenig verstanden“. Heute zeigt ihr Labyrinth, wie kongenial sie Kafkas Bildwelten schließlich verstanden hat: So viel Kraft strahlt es aus, dass der Zuschauerraum schrumpft und schwindet. Fast, als sei er eine Welt, die nicht fehlt, wenn sie fehlt. Aber das täte sie natürlich, für Schnizers Uraufführung „nach Kafka“.

Treunert und Schnizer setzen beide auf eine Collage. Treunert kombiniert Zeitbezüge, Stilsprachen, auch das Farbspektrum von Otto Dix bezieht sie ein. Schnizer fügt aus Kafkas „Der Schlag ans Hoftor“ bis „Die Verwandlung“, aus Briefen, Tagebuchpassagen zusammen. Ein Alptraum entsteht so, der weit hinauszielt über reale und fiktive Biografie. Eine überindividuelle Seelenschau, die zugleich ein zeitloses Zeitbild ist. „Die Schmerzen des Einzelnen“, sagt Schnizer, „stehen für die Schmerzen der Gesellschaft.“

Schnizer ist entschlossen, Kafka „auch in sehr brüchiger, doppelbödiger Komik“ zu zeigen, „als Herausforderung“. Kafka ist für ihn ein Autor, der „die Schrauben immer fester zuziehen kann“. Sein „Kafka“ wird also wehtun.

Philippe Thelen spielt die Titelrolle. Auch er ist Kafkas verstörenden Szenerien und atemlosen Sätzen in der Schule begegnet. „Ich mag Kafka“, sagt er, „aber ich hasse ihn auch, für diese Ausweglosigkeiten, Ausgeliefertheiten. Es ist ein guter Hass, denn so bleibe ich dran.“

„Kafka“: Premiere Sa, 26. 10. 19.30 Uhr, Osnabrück, Theater am Domhof. Nächste Termine: 29. 10., 10. 11., 15. 11., 24 .11.