Umbruch der arabischen Welt: Der Dschinn ist aus der Flasche

Von Algerien über Ägypten bis zum Sudan: Die arabische Welt ist im Umbruch. Der Protest richtet sich vor allem gegen Korruption und Misswirtschaft.

Rauchschwaden über einer Menschenmenge bei einer Demonstration

Beirut am 18. Oktober: Demonstranten protestieren gegen die libanesische Regierung Foto: Mohamed Azakir/reuters

Die arabische Welt ist wie ein gigantischer Dampfkochtopf. Meist liegt der Deckel der Repression darüber, aber immer öfter kocht er über. Sei es wie jetzt im Libanon, in dem Hunderttausende seit vergangener Woche gegen das überkommene und korrupte politische konfessionelle System auf die Straße gehen. Sei es im Irak, wo vor wenigen Wochen eine Protestwelle blutig niedergeschlagen worden ist, aber bereits neue Demonstrationen angekündigt wurden.

Wir haben erlebt, wie sich der Deckel dieses Jahr in Algerien nach dem Sturz des Diktator Abdelaziz Bouteflika gehoben hat, wo es seitdem wöchentlich zu Demonstrationen kommt, die eine Ende des gesamten „Systems Bouteflika“ fordern. Oder im Sudan, wo der Langzeitdiktator Omar al-Bashir gestürzt wurde und die Protestbewegung es geschafft hat, mit den bisher allein herrschenden Militärs ein Machtteilungsabkommen zu schließen.

Selbst in Ägypten, mit seinem allmächtigen Repressionsapparat, wagten es Menschen vor wenigen Wochen erstmals wieder, gegen den ehemaligen Militärchef und Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi auf die Straße zu gehen.

Das alles zeigt vor allem eines: Die Politik in der arabischen Welt lässt sich nicht in Jahreszeiten beschreiben à la „der Arabische Frühling ist zum Arabischen Winter geworden“. Was wir in unsrer unmittelbaren Nachbarschaft im südlichen und östlichen Mittelmeer und im Nahen Osten erleben, ist ein langfristiger Prozess des Umbruchs.

Was wir im südlichen und östlichen Mittelmeer wie auch im Nahen Osten erleben, ist ein Prozess des Umbruchs

Selbst die Anfänge dieser Aufstandsbewegung lassen sich als Prozess beschreiben. Die Wirklichkeit ist wesentlich komplizierter als die Geschichte vom Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, der sich in Tunesien selbst angezündet und mit diesem Schmetterlingsschlag in Tunesien einen Orkan in der gesamtem arabischen Welt ausgelöst hat.

Nehmen wir Ägypten. Was war der Beginn des Aufstands gegen Mubarak? War es der 25. Januar 2011, als die Menschen auf dem Tahrir-Platz zusammenströmten? Oder die Neujahrsnacht zuvor, als muslimische und koptische Jugendliche gemeinsam nach einem Anschlag auf eine Kirche in Alexandria gegen die Unfähigkeit des Regimes auf die Straße gingen, Kirchen zu schützen. Oder war es, als der Jugendliche Khaled Said im Jahr zuvor von Polizisten in Alexandria zu Tode geprügelt worden war und die Facebook-Kampagne „Wir sind alle Khaled Said“ sich wie ein Lauffeuer in Ägypten verbreitete.

Überkommene Systeme

Und so, wie diese Bewegung für eine politische Veränderung keinen wirklichen Ursprungsort hat, hat sie auch keinen Endpunkt. Die alten Systeme versuchen zwar immer wieder durch Repression den Deckel draufzusetzen, aber sie schaffen es nicht, den Widerspruch vollkommen auszuschalten. Der entzündet sich im Moment an wirtschaftlichen und sozialen Problemen. Denn eines haben alle überkommenen arabischen autokratischen oder konfessionellen politischen Systeme gemeinsam: Sie öffnen die Tür für Korruption und die Selbstbereicherung der jeweils regierenden Eliten, während das Gros des Landes wirtschaftlich und sozial mit dem Rücken zur Wand steht.

In Ägypten muss eine Drittel der Bevölkerung mit 1,50 Euro am Tag auskommen. Im Libanon lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Dazu kommt die grassierende Korruption. Der Sudan ist auf dem Korruptionsindex von Transparency International als das sechstkorrupteste Land der Welt gelistet, sieben Ränge vor dem Irak, nicht weit gefolgt vom Libanon.

Der andere, immer wiederkehrende Punkt des Unmuts sind nicht funktionierende staatliche Dienstleistungen, sei es die immer wieder unterbrochene Stromversorgung in der irakischen Sommerhitze oder der nicht abgeholte Müll im Libanon oder eine digitale Infrastruktur im nach außen glitzernden Beirut, die einem Drittweltland gleicht.

Hohe Jugendarbeitslosigkeit

Die Jugendarbeitslosigkeit liegt im Irak bei 20 Prozent. Das ist besonders dramatisch, weil 60 Prozent der Bevölkerung unter 24 Jahre alt sind. Ähnliche Zahlen gelten für die anderen arabischen Länder, in denen vor allem junge Menschen auf die Straße gehen, die für sich keine Per­spek­tiven sehen. Das Merkmal dieser Protestbewegung ist dabei, spontan zu agieren und, vielleicht mit Ausnahme des Sudan, nicht organisiert zu sein. Sie lehnen es ab, von den traditionellen Parteien vereinnahmt zu werden.

Interessant ist dabei, dass sich der Protest nicht nur gegen die arabischen Autokraten regt, sondern wie im Falle des Libanon und des Irak gegen Systeme, in denen konfessionelle Gruppierungen und Parteien die politische Szene beherrschen. Jahrzehntelang wurde den Menschen dort gesagt, dass ihre religiöse Identität der entscheidende Faktor der Politik ist, seien es Sunniten, Schiiten oder Christen. Doch jetzt sehen die Menschen, dass genau diese religionsbasierten Parteien sich selbst bereichern und eine Amigo-Wirtschaft installiert haben, in der sie die Ministerien zu ihren Selbstbedingungsläden gemacht haben.

Jetzt demonstrieren die Menschen dort gemeinsam für einen funktionierenden Staat, für politische Rechenschaft und gegen ihre eigenen konfessionellen Führungen. Wirtschaftliche und soziale Bedürfnisse triumphieren im Diskurs über religiöse Identitäten.

Es sind nicht mehr die Regime, die konfessionellen Parteien und deren Sicherheitsapparate, die bestimmen, was die Menschen denken und auch aussprechen. Vor allem über die sozialen Medien hat sich die kritische politische Debatte längst verselbstständigt und wandert dann sofort vom Internet ins Kaffeehaus. Und wenn der Dschinn einmal aus der Flasche ist, schafft es kein Autokrat, kein Militär und keine konfessionelle Partei, ihn wieder dorthin zurückzuholen. Dann nimmt der Prozess des Umbruchs seinen Lauf und hält sich dabei an keine Jahreszeiten.

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Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)

Auch Jahre nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ reißen die Massenproteste nicht ab. Ein ganzes Jahrzehnt ist tief durch die Arabellion geprägt. Im Schwerpunkt-Dossier „Zehn Jahre Arabischer Frühling“ berichten taz-Korrespondent*innen und Gastautor*innen aus den Umbruchsländern vom Maghreb über Nordafrika bis nach Syrien, den ganzen Nahen Osten und die arabische Halbinsel.

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