Proteste in Haiti: Die Kontinuität der Ignoranz

In Haiti tobt ein Aufstand. Den Rest der Welt interessiert das bislang nicht sonderlich – dabei trägt die internationale Gemeinschaft eine Mitverantwortung.

Wütende Menschen auf der Straße

Landesweit gehen die Haitianer gegen ihre korrupte Regierung auf die Straße Foto: Andres Martinez Casares/reuters

Dass in Haiti seit einem Jahr regelmäßig Demonstrationen stattfinden, die sich in den vergangenen fünf Wochen zu einem landesweiten Aufstand gegen die Regierung unter Präsident ­Jovenel Moïse entwickelten, wurde in der medialen Prioritätenliste der westlichen Öffentlichkeit unter „ferner liefen“ behandelt. Dabei gibt es gute Gründe, sich den Aufruhr im ärmsten Land Lateinamerikas genauer anzusehen.

Der Aufstand nahm seinen Ausgangspunkt mit der Aufdeckung des Petrocaribe-Skandals, der Veruntreuung von Millionensummen aus den Einnahmen durch den Verkauf venezolanischen Erdöls, das der haitianischen Regierung für einen nicht allzu teuren Kredit zum Weiterverkauf zur Verfügung gestellt wurde. Bereichert hat sich eine kleine Schicht privater Unternehmer und Regierungsmitglieder; darunter soll auch der jetzige Präsident sein.

Interessant ist nicht so sehr die Korruption, die in ganz Lateinamerika ein zentrales Thema ist. Interessanter ist eher, dass der Skandal nicht nur in Haiti selbst, sondern auch in der nordamerikanischen haitianischen Diaspora aufgedeckt wurde und einen gemeinsamen, sich gegenseitig inspirierenden politischen Protest provoziert hat. So blockierte die haitianische Diaspora in Montréal und New York Auftritte von Haitis Ex-Präsidenten Michel Martelly, der nach dem schweren Erdbeben 2010 von den USA und der internationalen Gemeinschaft durchgesetzt wurde. Seither bestimmt eine gut gebildete junge Mittelschicht in- und außerhalb Haitis den Ton der Debatte. Es geht nicht mehr nur um einen Regierungswechsel – gefordert wird ein Systemwechsel.

Und diese Forderung ist ernst gemeint. Seit Wochen brennen Barrikaden auf den Straßen aller Städte in Haiti, es kommt regelmäßig zu Gewalt. Erst am Wochenende wurde in Port-au-Prince wieder ein Mensch erschossen und der Schütze wiederum von Demonstranten gelyncht. Zigtausende demonstrieren unablässig gegen die Regierung und gegen die UNO als Symbol der äußeren Einmischung. Am vorvergangenen Sonntag folgten Zehntausende dem Aufruf von Musikern und zogen wie an Karneval durch die Straßen der Hauptstadt Port-au-Prince mit dem Ruf: „Jojo dòmi deyò“, „Jojo (Jovenel), schlaf auswärts“.

So kann es für niemanden weitergehen

Der Aufstand macht nur gelegentlich Pause, damit die Teilnehmenden sich erholen oder einkaufen können. Und alle, die sich in Haiti traditionell Zivilgesellschaft nennen, von der Gewerkschaft der Motorradtransporteure und Tap-Tap-Fahrer über Menschenrechts- und Bauernorganisationen bis zu einflussreichen Handelskammern, haben sich mit einem sechsseitigen „Manifest zur Rettung“ zu Wort gemeldet.

Der Status quo ist unerträglich und zugleich geradezu lächerlich geworden

Der Abtritt des Präsidenten Moïse, den wohl nur noch eine äußere Einmischung oder ein ganz schmutziger Krieg retten könnte, soll nur den Anfang für einen tiefgreifenden Veränderungsprozess darstellen.

Denn so wie die Verhältnisse in Haiti sind, kann es für niemanden weitergehen. Der Status quo ist unerträglich und zugleich geradezu lächerlich geworden. Unerträglich, weil 80 Prozent der Bevölkerung von zwei Dollar am Tag oder darunter leben müssen, während sich die wenigen Privilegierten einer Belagerung durch die ständig wachsenden Armutsviertel ausgesetzt sehen. Weil die Armen keinen Zugang zu Bildung, zu Gesundheit oder zu einem würdigen Wohnen haben, steht die Forderung nach Umverteilung im Fokus des angestrebten Systemwechsels.

Lächerlich deshalb, weil wenige oligarchisch organisierte Reiche den Staat quasi zu ihrem Eigentum gemacht haben. Da werden dann schon mal 100.000 Dollar geboten, um die Stimme eines Senators zu kaufen. Wie kürzlich, als es um die Installation eines neuen Regierungschef ging, der bis heute trotz der erklecklichen Summen nicht gewählt wurde.

Unrühmliche Einmischung

Was in diesem Kontext viel häufiger zur Sprache kommen müsste, ist die Verantwortung der sogenannten internationalen Gemeinschaft am gegenwärtigen Zustand Haitis. Diese tritt ziemlich unrühmlich noch als Core Group in Erscheinung, der neben der UNO, den USA, Kanada und Frankreich unter anderem auch Deutschland angehört, und stützt Moïse nach wie vor in seinem lächerlichen Dialog-Aufruf, der nichts anderes als Kosmetik ist.

Anders als früher vertrauen die Haitianerinnen und Haitianer nicht auf Hilfe aus dem Ausland

Dabei ist Haiti in mehrfacher Hinsicht ein Land mit historischer Bedeutung. Die Karibik­insel war als Saint-Domingue der Ausgangspunkt der Eroberung und Kolonisierung Lateinamerikas. Tatsächlich wurde hier zum ersten Mal der koloniale Rassismus konstruiert.

Jede postkoloniale Debatte nimmt also hier ihren räumlichen Ausgangspunkt. Mit Haiti, der reichsten Kolonie Frankreichs, begann zudem der Sklavenhandel, der sich nahtlos in die koloniale Vorstellung von der Überlegenheit der Weißen einfügt, die in Saint-Domingue begründet wurde.

Und: In Haiti gab es den ersten erfolgreichen Sklavenaufstand. Im Anschluss an die Französische Revolution (und zum Teil ausgebildet in Frankreich) forderten Sklavinnen und Sklaven ihre Gleichstellung und erreichten 1804 die Unabhängigkeit, lange vor dem Rest Lateinamerikas. Nicht zuletzt wurde die bis heute uneingelöste Forderung nach der Universalität der Menschenrechte in Haiti weiterentwickelt. Dem Ausschluss Haitis aus der kolonial organisierten Welt folgte die Agonie des Landes, die durch regelmäßige Interventionen der USA und zuletzt internationaler UNO-Truppen und NGOs nach dem Erdbeben von 2010 verschärft wurde.

Bemerkenswert ist, dass der gegenwärtige Aufstand in Haiti diese Geschichte im Blick hat, aber sich nicht von einem falschen Patriotismus vereinnahmen lässt. Und: Anders als früher vertraut er nicht auf Hilfe aus dem Ausland. Die Haitianerinnen und Haitianer wollen ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen. Und vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass sie sich damit unterhalb des Radars einer nach wie vor von kolonialem Denken geprägten westlichen Öffentlichkeit bewegen.

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