Soziale Unruhen in Chile: 30 Jahre Machtmissbrauch

Die Proteste offenbaren die extreme soziale Ungleichheit. Vielleicht wird in Chile aus dem Labor des Neoliberalismus das seines Umsturzes.

Ein Demonstrant schützt sich vor einem Wasserwerfer

Proteste in Santiago de Chile Foto: ap

Was wegen der Fahrpreiserhöhung der U-Bahn in Santiago begann, hat sich zu einem nationalen Aufstand entwickelt, der nicht mehr aufzuhalten ist. Die Chilen*innen haben die Nase voll von niedrigen Renten, teuren Krankenversicherungen und hohen Studiengebühren. Das neoliberale Wirtschaftsmodell, das während der Pinochet-Diktatur eingeführt wurde, ist an seine Grenzen gestoßen.

Chile gehört zu den Ländern mit einer extremen sozialen Ungleichheit: Auf ein Prozent der Bevölkerung konzentrieren sich zwei Drittel des Reichtums. Fast die Hälfte der Bevölkerung verdient weniger als den Mindestlohn; alle sozialen Leistungen, Wasser und Strom sind privatisiert. Die Lebenshaltungskosten sind in den letzten Jahren stark angestiegen, aber die Löhne nicht. Die Erhöhung des Fahrpreises der U-Bahn um 30 Pesos war nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Es geht nicht um 30 Pesos, sondern um 30 Jahre Machtmissbrauch.

Anstatt die Proteste zu schlichten und auf die Unzufriedenheit der Bevölkerung einzugehen, befeuert die Regierung die Proteste. Präsident Sebastián Piñera hat den Ausnahmezustand ausgerufen – zuletzt geschah dies 1987 unter der Militärdiktatur von Augusto Pinochet. Piñera erklärte, das Land befinde sich „im Krieg gegen einen gefährlichen Feind“. Er bezeichnet die Demonstranten als gewalttätige Randalierer und will mit dem Einsatz des Militärs für „Ordnung, Frieden und Demokratie“ sorgen.

Wer aber wirklich die Demokratie gefährdet, ist die Regierung. Viele Chilen*innen fühlen sich an die Militärdiktatur erinnert. Das Nationale Institut für Menschenrechte hat seit Donnerstag 44 Verletzte durch polizeiliche oder militärische Gewalt registriert. Einer der Verletzten wurde von einem Polizisten aus einer Distanz von fünf Metern angeschossen. Elf Menschen sind bei den Protesten bislang ums Leben gekommen. Solange die Regierung weiter mit Gewalt und Repression gegen die Demonstrant*innen vorgeht, werden die Proteste nicht aufhören. Vielleicht wird aus dem Labor des Neoliberalismus das Labor seines Umsturzes.

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