Lammert über Konflikte in der CDU: „Gelegentlich wird es rustikal“

Ist die CDU im Umbruch? Der langjährige Bundestagspräsident Norbert Lammert spricht über die Grundrente, Facebook und den Frauenmangel der Partei.

Der ehemalige Bundestagspräsident Norbert Lammert spricht

Norbert Lammert arbeitet heute als Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung Foto: Thoams Trutschel/Photothek/imago

taz: Herr Lammert, Sie waren zwölf Jahre lang Präsident des Bundestags. Seit 2018 sind Sie Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Wenn sie auf den heftigen großkoalitionären Streit zur Grundrente zurückschauen – was kann die Union daraus lernen?

Norbert Lammert: Der Streit in der Sache war nötig. Aber ich fürchte, dass diejenigen, die am dringendsten auf diese Regelung gewartet haben, am wenigsten verstanden haben, warum das so lange gedauert hat.

Warum war der Streit so wichtig?

Das Thema ist überaus komplex. Gerade wenn wir für soziale Themen sensibel bleiben wollen, dürfen wir uns nicht leichtfertig in eine gut gemeinte Großzügigkeit zulasten der Steuerzahler verlieren. Die würde uns nämlich schnell wieder einholen. Und deshalb war es wichtig, sich Zeit für die Klärung des tatsächlichen Bedarfs zu nehmen.

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt hatte beim Thema Grundrente Bundesminister Hubertus Heil als „Konfettikanone“ bezeichnet, CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak die Vorschläge der SPD als „Ideen aus der Mottenkiste“. Ist das der Stil, den die Bürger von der Union erwarten?

Diese Art von gelegentlich rustikaler, auch polemischer Auseinandersetzung hat es im Deutschen Bundestag immer gegeben. Und das kann auch gerne so bleiben. Die imaginäre rote Linie wird dann überschritten, wenn es sich erkennbar um persönliche Verunglimpfungen, Beleidigungen, Verletzungen handelt. Und diese treten insbesondere in den sogenannten sozialen Medien nicht nur gelegentlich, sondern massenhaft auf.

Also ein Niveau-Limbo für erhöhte Aufmerksamkeit?

So funktioniert das Transmissionssystem der sozialen Medien: Klickzahlen werden zur Grundlage der vermeintlichen Relevanz einer Meinungsäußerung gemacht. Nach dieser Logik wird das, was nicht von vielen wahrgenommen wird, für irrelevant gehalten. Zugespitzt formuliert: Die sicherste Methode, nicht wahrgenommen zu werden, besteht mittlerweile darin, etwas schlicht Vernünftiges zu sagen.

Im Vorwort zu „Entgleist?“, einer aktuellen Publikation Ihrer Stiftung zur Sprach- und Debattenkultur, schreiben Sie von Verhaltensmustern, die mit „eigener politischer Ratlosigkeit“ zu tun haben. Sie mutmaßen, dass Akteure „die Auseinandersetzung in der Sache überfordert“.

Das ist ein selbstkritischer Hinweis. Wir müssen uns die Frage gefallen lassen, ob das Insistieren auf Stilfragen nicht auch die Ausflucht gegenüber einer vielleicht als unangenehm empfundenen Auseinandersetzung in der Sache ist.

Sind die politischen AkteurInnen mit Sachfragen überfordert?

wird am 16. Dezember 71, ist seit zwei Jahren Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung. Der Bochumer Politologe war von 2005 bis 2017 Präsident des Deutschen Bundestages und dort bekannt für seine so gewählte wie bildhafte Sprache. Lammert saß 28 Jahre für die CDU im Bundestag. Er war zweimal, 2010 und 2016, für das Amt des Bundespräsidenten im Gespräch, nahm sich aber schließlich selbst aus dem Rennen.

Aus meiner Sicht ja, und zwar nicht nur gelegentlich. Wenn man Politik auf das Spektrum zwischen Erwartungen und Möglichkeiten projiziert, ist sie regelmäßig überfordert. Weil sich zwischen der Vielzahl an Erwartungen und den immer begrenzten Möglichkeiten notwendigerweise eine Differenz auftut. Da sind wir wieder beim Kommunikationsproblem. Der Erklärungsbedarf für Politik wird immer größer …

… aber die Aufmerksamkeitsspanne immer kürzer.

Auch da besteht ein Zusammenhang zwischen der Kurztaktigkeit unseres heutigen Informa­tionsverhaltens und der durchschnittlichen Aufmerksamkeitsbereitschaft, auf die politische Debatten rechnen können.

Wie nutzen Sie Twitter und Faceboook? Schauen Sie selbst rein oder lassen Sie gucken wie die Kanzlerin?

Vom Alter her bin ich zwangsläufig – und subjektiv glücklicherweise – analog sozialisiert. Wenn ich Dinge schnell erfassen, eingrenzen will, bediene ich mich natürlich des Internets. Aber ich beziehe die Informationen, mit denen ich umgehe, nach wie vor im Wesentlichen aus professionell aufbereiteten Medien. Das sind Tages- und Wochenzeitungen und Fernsehnachrichten. Was ich digital beziehe, ist für mich deren Ergänzung, kein Ersatz.

Lesen Sie Printzeitungen?

Ja, selbst den Pressespiegel, in dem die wichtigsten Artikel zusammengefasst sind, lese ich lieber gedruckt als elektronisch. Da kann ich Unterstreichungen oder Notizen machen und mir Artikel herausnehmen, wenn ich sie für eine andere Gelegenheit brauchen kann. Das macht es für mich langsamer, aber auch gründlicher.

Am Freitag hat EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Konrad-Adenauer-Stiftung ihre Europa-Rede gehalten. Der Bundespräsident hat eine Rede zum 9. November gehalten. Erreichen derlei hochmögende Formate in medial rasanten Zeiten überhaupt noch ihre Adressaten?

Das ist eine Frage, mit der wir uns hier ständig beschäftigen. Wie erreichen wir die adressierte Zielgruppe am besten? Klar ist: Es gibt kein Format, das allen Ansprüchen genügt. Dass die klassischen Veranstaltungen aber ausgedient hätten, ist mein Eindruck nicht. Zumal sie beispielsweise auch noch „gestreamt“ werden und Ausschnitte im Fernsehen laufen.

Die Adenauer-Stiftung hat gerade eine Studie zur Repräsentanz von Frauen in Politik und Gesellschaft veröffentlicht. Demnach wünschen sich 87 Prozent der Menschen deutlich mehr Frauen in Parlamenten und Parteiämtern. Wird Politik besser, wenn Frauen sie machen?

Nicht unbedingt. Aber dass Politik über Jahrhunderte fast ausschließlich Männersache war, hat sie offensichtlich nicht besser gemacht. Das ist historisch belegt. Es entspricht jedoch demokratischen Mindeststandards, dass die Wählerinnen und Wähler selbst entscheiden, von wem sie repräsentiert sein wollen. Wenn sich dabei Männer für Frauen entscheiden und Frauen für Männer, leuchtet mir das eine so ein wie das andere.

Interessant ist eine weitere Zahl in der Studie. Je älter die Befragten, desto größer ist deren Überzeugung, dass Frauen Politik positiv verändern.

Dass jüngere Frauen statistisch in geringerem Umfang als ältere Männer zu dieser Einsicht kommen, hat mich auch überrascht.

In der CDU, der Ihre Stiftung nahesteht, sind nur 26 Prozent der Mitglieder Frauen, in der CSU 20, auch in der Unionsfraktion sitzen nur 20 Prozent. Kann man sagen: Je konservativer die Partei, desto männlicher ihre Repräsentanten?

„Dass Frauen benachteiligt werden, wenn sie kandidieren, ist nicht meine Erfahrung. Die Hürden liegen eher davor“

Historisch wird man das nicht bestreiten können. Aber auch solche unbefriedigenden Rela­tio­­nen wie die von Ihnen genannten haben eine konservative Partei wie die CDU nicht daran gehindert, früher als irgendeine andere Partei eine Frau zur Vorsitzenden zu wählen. Und dann als ihre Nachfolgerin noch eine Frau. Im Übrigen bei einem Delegiertenanteil von 30 Prozent Frauen beim Parteitag – und obwohl es zwei männliche Alternativen gegeben hätte. Das relativiert doch einiges.

Die Frauen-Union will vom Bundesparteitag beschließen lassen, dass das seit 23 Jahren geltende freiwillige 30-Prozent-Quorum verbindlich wird und Frauen im Reißverschlussverfahren auf die Wahllisten kommen. Das wäre für die Union revolutionär. Was ist Ihre Haltung dazu?

Als Parteimitglied sage ich dazu, dass der Vorschlag klug ist, in Würdigung dieser Diskussion zu dieser und anderen Fragen eine Satzungskommission einzusetzen mit dem Auftrag, eine Regelung zu finden, die sowohl den einen wie den anderen Aspekten Rechnung trägt: also die fehlende Balance zu verbessern und gleichzeitig nicht durch obligatorische Vorgaben das Recht von Wählern und Parteimitgliedern zu beschneiden, sich ihre Repräsentanten souverän zu wählen. Das halte ich für klüger, als aus der Hüfte heraus eine Kampfabstimmung für oder gegen Quoren oder Paritäten zu machen.

Was Sie vorschlagen, bedeutet doch Arbeitskreis und Wiedervorlage. Auf einer Veranstaltung Ihrer Stiftung im Oktober war die Ungeduld der Unionsfrauen deutlich zu spüren. Die Chefin der Frauen-Union, Widmann-Mauz, sagte: „Die Hälfte müssen Frauen sein.“

Ich verstehe die Ungeduld. Allerdings ahne ich, dass wir dann mit weiteren Formen von Ungeduld konfrontiert sein werden, die ich ebenfalls für verständlich halte. Es wäre klug, noch einmal darüber nachzudenken, ob es jenseits obligatorischer Quoren intelligentere Verfahren gibt, die eine Verbesserung der angemessenen Repräsentanz von Frauen und Männern, Jüngeren und Älteren, Einheimischen und Zugezogenen, Gläubigen und Ungläubigen praktikabel macht. Und zwar ohne sich am Ende wie Gulliver selbst gefesselt zu haben, das aber mit bestem Gewissen.

Markus Söder ist bei der Frauenfrage kürzlich seine ganze Parteitagsregie aus dem Ruder gelaufen. Bei der CSU wandten sich Delegierte, auch Frauen, gegen die Listenlösung. Ein Warnschuss an die CDU-Frauen oder ein Ansporn?

Eher die Bestätigung der Klugheit jener Vor­gehensweise, die ich für den bevorstehenden Parteitag der CDU gerade geschildert habe.

Ist die Union bereit für mehr Frauen? Im Streit über die Führungsqualitäten von Vorsitzender und Kanzlerin sind die Männerbünde deutlich sichtbar.

Wenn dann am Ende Parteitage trotzdem Frauen als Vorsitzende wie als Kanzlerkandidatin wählen, ist die Welt doch fast wieder in Ordnung. Wobei noch mal ernsthaft: Als Rechtfertigung für den zu geringen Anteil an weiblichen Abgeordneten reicht das natürlich nicht.

Viele CDU-Politiker beklagen den geringen Anteil von Frauen in ihrer Partei. Sie würden angeblich sehr gern mehr Frauen nach vorn schicken, aber da seien leider keine. Was sind die Gründe für diesen Mangel?

Dass Frauen benachteiligt werden, wenn sie kandidieren, ist nicht meine politische Lebenserfahrung. Die höchsten Hürden liegen eher vor der Kandidatur. Unsere Studien zeigen, dass Frauenrepräsentanz nicht da am höchsten ist, wo es die stärksten formalen Regelungen gibt. Sondern da, wo die Frauenerwerbstätigkeit höher ist. Das hat offenkundig mit gesellschaftlichen Realitäten, beispielsweise mit der tatsächlichen Vereinbarkeit von Beruf und Familie, zu tun. Auch Politik ist jenseits der kommunalen Ebene ein Beruf, nicht eine sympathische Freizeitbeschäftigung. Dem muss die CDU zweifelsohne besser Rechnung tragen.

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