Gelassenheit im Alter: „Fürchtet euch nicht“

Sven Kuntze, früher Journalist, heute Privatmann und Gentleman, spricht über Verdrängung, Alkohol und die höchste Form der Freiheit.

Ein Mann steht am Geländer eines Balkons vor abendlichem Himmel

Sven Kuntze blickt zurück Foto: Sonja Trabandt

Ein ausgebautes Dachgeschoss in Prenzlauer Berg mit großer Wohnküche und langer Theke aus Echtholz, der Blick geht weit über die Dächer von Berlin. In der Obstschale auf dem Couchtisch liegen fünf Zitronen. Auf dem Esstisch liegt das neue Buch von Joachim Gauck: „Toleranz: einfach schwer“. Sven Kuntze trägt ein graues Polo-Hemd, das schon bessere Tage gesehen hat, und blaue Chucks, die mal ein Signet der Jugend waren. Er macht klassischen Brühkaffee mit Wasserkessel und Kaffeefilter. Er war im Kino, aber der neue Tarantino habe ihn enttäuscht. Gut dagegen fand er „The Mule“. Der ist vom 89-jährigen Clint Eastwood. Kuntze ist zwölf Jahre jünger.

taz am wochenende: Herr Kuntze, das Alter ist kein einfaches Thema. Ich habe lange nachgedacht, wie ich dieses Gespräch eröffne, vielleicht mit: Wollen wir ein Gläschen trinken?

Sven Kuntze: Sehr gute Idee.

Ich habe eine Flasche Rotwein mitgebracht.

Wollen wir die jetzt aufmachen? Trinken Sie auch einen Schluck?

Wenn Sie mittrinken.

Klar.

Altersangemessen habe ich extra einen halbtrockenen ausgesucht.

Bei Weißem bin ich da immer noch misstrauisch, aber bei Rotem finde ich das gut. Ich bin auf einem Weingut groß geworden. Prost. Wir probieren das mal.

Prost. Ist das wirklich so, wird der Wein mit dem Alter immer süßer?

Der Fernsehjournalist

Kuntze ist 1942 in Straßburg geboren. Er studierte Soziologie, Psychologie und Geschichte. Ab 1983 arbeitete er als Journalist, Moderator und USA-Korrespondent für die ARD.

Der Buchautor

Seit er in Rente ist, schreibt er Bücher über das Altern. Es sind Plädoyers für das Leben in der Gegenwart.

Ach, so süß ist der doch gar nicht. Aber ich gebe zu: Ich bin kein großer Weinkenner, obwohl ich vom Weingut komme. Ich kann auch mit dieser Sprache nichts anfangen. Ich trinke gerne Wein, aber mir fehlen die Worte. Der hier schmeckt mir halt, aber ich könnte jetzt nicht sagen, ob er nach Leder oder doch eher nach Basalt schmeckt.

Wenn man Ihr neues Buch „Alt sein wie ein Gentleman“ liest, kann man den Eindruck gewinnen, das Alter ist ohne Alkohol nicht zu ertragen.

Das Alter ist nicht immer gut erträglich. Und der Alkohol hilft, eine schöne Form der Gelassenheit zu finden. So ein bisschen Verzweiflung und Melancholie ist halt immer im Hintergrund, wenn man älter wird.

Das Buch hat mir Angst gemacht, obwohl ich es gerne gelesen habe.

Oh, das sollte es nicht. Eigentlich ist meine Botschaft: Vergesst den ganzen Kram, es wird ganz schön.

Na ja, Sie schreiben Sachen wie: „Gleichmaß und Einförmigkeit bilden das bekömmliche Schwarzbrot des Alters.“ Oder: „Man beginnt sich selbst nicht mehr zu mögen.“ Das Reisen, mit denen sich ältere Menschen so gern beschäftigen, ist Ihnen nur noch „eine Abschiedstour durch eine Welt, die wir bald verlassen müssen“. Der Lebensabend wird bei Ihnen zu einem „Leben in Überresten“: „Man ist nur noch vorhanden.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Ich gebe zu, dass das nicht erfreulich klingt. Aber es ist ja auch so und es wäre Quatsch, das zu leugnen. Diese ganzen körperlichen Verfallserscheinungen sind totale Kacke. Und ich weiß, wovon ich rede: Die Sinne werden schwächer. Die Krankheiten, die man kriegen kann. Andererseits, aber vielleicht kommt das im Buch zu kurz, gewinnt man eine unglaubliche Form von Leichtigkeit. Weil der ganze Kram, der einem das Leben vergällen kann, also Leistungsdruck, Versagensängste, Konkurrenz, Angst vor der Zukunft, Furcht und Stress, das fällt alles von einem ab. Man lebt sehr kommod im Moment. Das macht jeden Augenblick zu einem Geschenk. Ich lebe wahnsinnig gern plötzlich. Ich weiß, dass da nicht mehr viel kommt. Ich weiß, dass die Leute nicht mehr viel von mir wollen. Ich weiß auch, dass ich keine Zukunft mehr habe. Aber in jedem einzelnen Augenblick ist das Leben ungeheuer angenehm und leicht.

Das ist schön, aber beim Lesen Ihres Buches hatte ich eher den Eindruck, Sie wollten mal mit allen Lügen über das Alter aufräumen. Angefangen von der Weisheit.

Ein Schmu, den keiner braucht. Das, was bisher gern als Ernte des Alters bezeichnet wurde, also Weisheit, Würde oder Vorbildfunktion, das braucht man eigentlich alles gar nicht. Stattdessen stellt sich eine Leichtigkeit des Seins ein, die man genießen sollte. Das war auch die Idee des Buches, ich wollte den Leuten sagen: Fürchtet euch nicht. Ihr werdet schwächer, ihr habt keine Zukunft mehr, vieles ist nicht mehr möglich, ihr könnt nicht mehr in die Ferne schweifen, bleibt lieber zu Hause, aber trotzdem ist es gut, weil der Augenblick so erfüllt ist.

Wie füllen Sie diese Augenblicke? Was machen Sie so?

Ich gehe ins Café, ich gehe in die Nachmittagsvorstellung ins Kino, ich lese, ich koche, ich treffe mich mit Freunden, ich rede unendlich viel Unsinn, ich gehe ins Stadion zum Fußball, und gelegentlich streite ich mich mit meiner Frau. Ich mache, fällt mir gerade auf, vor allem Sachen, die keine Fäden in die Zukunft haben und nur wenige in die Vergangenheit, sondern vor allem für den Augenblick taugen. Trotzdem bin ich beschäftigter als je zuvor.

Das ist doch ein Klischee, der Rentner, der keine Zeit mehr hat.

Aber da ist was dran. Ich treffe mich mit Leuten zum Lunch, einfach so. Das wäre früher nicht vorgekommen, da wäre das immer ein Arbeitsessen gewesen. Ich war ja wichtig, meine Zeit war wertvoll. Heute verdaddel ich meine Tage mit so kleinteiligen und ziellosen Beschäftigungen, ohne aber das Gefühl zu haben, ich verplempere meine Zeit, obwohl ich keine bedeutenden Sachen mehr mache, die in die Zukunft ausgreifen.

Für diese Leichtigkeit braucht man aber auch eine gute Rente.

Klar, das stimmt schon. Wenn es einem finanziell gut geht, ist es sehr viel leichter, ein leichtes Leben zu führen. Da bin ich sicher privilegiert, aber das, womit ich meine Tage ausfülle, kostet auch nicht so viel Geld. Ich habe zum Beispiel aufgehört, große Reisen zu machen. Es ist herrlich. Schon weil ich dieses Gefühl hasse: Hierher kommst du nie wieder, das ist jetzt das letzte Mal.

Gar keine Reisen mehr?

Nur noch überschaubare. In meiner Generation haben viele ja ein Häuschen in Italien, in Griechenland oder in Spanien. Und die brauchen Gäste, sonst wird das zu langweilig. Also besucht man die und zieht nach ein paar Wochen weiter in die nächste Hütte. Vielleicht ist das ja meine Zukunft: Gast. Aber was ich wirklich nicht mehr haben muss: mitten im Dschungel aufzuwachen oder in einer asiatischen Stadt im Stau zwischen lauter Mopeds zu stehen. Es hieß ja immer: Da muss man mal gewesen sein. Aber das stimmt nicht, man muss nicht vor den Pyramiden gestanden haben, nur um zu sagen: Ach, guck mal, die Pyramiden, sehen genau so aus wie auf dem Bild in meinem Reiseführer – nur nicht so gut und die zehntausend anderen Leute sind auch nicht auf dem Foto drauf. Das gehört auch zu dieser neuen Gelassenheit, die ich gefunden habe. Statt durch die Weltgeschichte zu reisen, genieße ich es, jeden Tag zum selben Bäcker zu gehen, weil ich mich darauf verlassen kann, dass der morgen auch noch da ist und übermorgen auch. Man baut sich eine repetitive Lebenswelt, die eine ungeheure Verlässlichkeit und Sicherheit ausstrahlt. In der Jugend hat man etwas gegen Gleichförmigkeit, im Alter lernt man sie schätzen. Deshalb erzählt man auch ständig dieselben Geschichten. Und in dieser Blase ist es leicht, gelassen zu sein.

Wie sind Sie zu dieser Gelassenheit gekommen?

Die ist mir so zugewachsen. Es macht überhaupt keinen Sinn mehr, ehrgeizig zu sein. Es macht keinen Sinn mehr, in die Konkurrenz zu gehen. Es macht keinen Sinn mehr, sich große Projekte vorzunehmen, an denen man scheitern kann. Und weil das alles keinen Sinn mehr macht, lassen Sie es irgendwann auch sein.

Wie lang haben Sie gebraucht, diese Gelassenheit zu erreichen? Immerhin waren Sie mal sehr ehrgeizig, ein „Ego-Schwein“, stand über Sie im Spiegel. Mit 65 fällt doch nicht einfach der Hammer und man ist plötzlich gelassen.

Ich hatte auch erwartet, dass ich leiden würde, als ich beim WDR aufhören musste, deshalb habe ich mich kurz nachdem ich in Rente geschickt worden war, noch mal bei „Anne Will“ verdingt. Aber das hab ich nach vier Wochen wieder aufgegeben. Seitdem war ich in keinem Fernsehstudio mehr, ich bin auch nicht auf die Partys gegangen, ich habe eigentlich keine Kontakte mehr. Dass ich noch diese beiden Filme gemacht habe …

… einen übers Altwerden und einen übers Ehrenamt, beide preisgekrönt.

Die Filme waren eher Zufall. Und seitdem ist nichts mehr – stattdessen bin ich in dieses bedeutungslose Nichtstun so hineingeschliddert. Und das kann ich nur sehr empfehlen. Ich hab nie dagesessen und gedacht: Ich hätte jetzt gern was zu tun. Ich habe das Arbeitsleben nie vermisst.

Wirklich?

Ja, und das geht auch den anderen in meiner Alterskohorte so. Wenn ich so mit meinen Freunden rede: Die vermissen wenig. Was ja angenehm ist. Vielleicht hat die Natur da was eingerichtet, dass man das so leicht hinter sich lässt.

Etwas scheinen Sie aber zu vermissen: Man spürt einen gewissen Neid auf Menschen, die in ihren letzten Jahre Trost in der Religion finden können.

Ich war zwar lange in der Kirche tätig als Ministrant. Schöne Kostüme. Aber ich bin eben auch ein Opfer der Aufklärung und frage mich bis heute, wie das Christentum zwei Jahrtausende überleben konnte, mit dieser bizarren Erzählung und bei diesen Kosten. Diese Kirchen und der Apparat, das ist teuer. Aber es stimmt natürlich: Das Christentum bietet Trost und Sicherheit, Vergebung und Gewissheit auf ein Jenseits.

Ist Altersreligiosität eine Alternative?

Ich habe das schon erlebt. In meinen Kreisen werden die Leute aber eher Buddhisten. Und haben meistens keine Ahnung, was Buddhismus überhaupt ist. Buddhismus ist eine tiefe, trostlose, dunkle Religion. Was ist der erste Satz des Buddhismus? Alles Leben ist Leiden. Als Christ wird einem immerhin, wenn man das ganze irdische Leid überstanden hat, ein ewiges Leben im Paradies zugestanden – und da soll es ja sehr nett zugehen. Aber ich glaube nicht an Altersreligiosität. Man kann sich nicht einfach irgendwann überlegen, ich glaube jetzt an Gott. Das muss man schon ein ganzes Leben gemacht haben, sonst funktioniert das nicht. Allerdings treibt mich eher die Frage um: Wie soll eine Gesellschaft funktionieren ohne die Trostmomente, die Vergebung, die Beichte, die Liebe, die Überhöhung im Gebet, dieses ganze weit gefächerte christliche Angebot für alle Lebenslagen?

Berührt Sie das nicht auch persönlich? Womit trösten Sie sich, wenn gerade kein Alkohol da ist?

Ich höre gelegentlich Mozart. Ich gehe ins Kino. Ich unterhalte mich mit anderen Menschen. Nein, ich habe da kein Bedürfnis. Weder habe ich eine Sehnsucht nach den religiösen Ritualen meiner Jugend, noch will ich mir etwas zusammenbasteln aus verschiedenen Religionen wie viele meiner Zeitgenossen, obwohl einige von denen ganz selig scheinen. Nein, ich bin da ganz nackt. Aber mit dem Tod halte ich es wie Epikur: Wo ich bin, ist der Tod nicht, und wo der Tod ist, da bin ich nicht. Ich habe aber auch keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben. Und so geht das doch den meisten. Und zu Recht: Sterben kann ganz schön scheiße sein.

Ihre Lösung ist Selbstmord.

Der Freitod. Das ist kein Mord, sondern eine freie Entscheidung, das eigene Leben zu beenden. Wir haben uns alle möglichen Formen der Freiheit erkämpft, deshalb sollten wir uns diese höchste Form der Freiheit auch noch zugestehen. Man will doch nur, wenn der Augenblick gekommen ist, dieses Leben in Anstand und Würde hinter sich bringen – und sich nicht am Hauptbahnhof vor den Zug schmeißen müssen. Das kann doch niemand wollen. Ein paar Tabletten, mehr will ich doch gar nicht. Ich habe auf jeden Fall nicht vor, noch mal drei mühselige Monate in Krankenhäusern und Therapien dranzuhängen, wenn ich weiß, dass es eh zu Ende geht.

Ist die Grauzone nicht zu groß? Was ist noch lebenswertes Leben – und was nicht?

Jeder, der weiterleben will, der soll weiterleben. Jeder soll das für sich selbst entscheiden dürfen. Aber ich verstehe das: Wir scheuen uns aufgrund unserer grauenhafte Geschichte, die Sterbehilfe freizugeben. Andere Länder kriegen das ja auch hin, die juristischen Probleme zu klären. Aber bei uns wird das nie passieren, schon weil man damit keine Wahlen gewinnen kann. Die Leute, die von diesem Gesetz profitieren, können dann ja nicht mehr wählen.

Glauben Sie, Sie werden diese Entscheidung, gehen zu wollen, dann wirklich treffen können?

Das weiß ich nicht. Aber ich stelle es mir so vor. Meine Hoffnung ist natürlich, dass mich der Herrgott innerhalb eines Sekundenbruchteils zu sich nimmt. Aber die Realität wird wahrscheinlich sein, dass es zäh und mühselig wird wie bei den meisten. Und da kann ich mir schon vorstellen, dass ich dann sage: Kinder, wir wissen alle, dass es nicht mehr lange geht. Lasst mich geh’n.

Leiden Sie darunter, ständig mit dem Tod konfrontiert zu sein?

Nein, gar nicht. Ich und meine Altersgenossen haben zum Glück eine psychosoziale Technik von größter Nützlichkeit entdeckt, die viel zu lange wegen einer schlecht verdauten Freud-Lektüre vor allem der 68er eine ganz schlechte Presse hatte: die Verdrängung. Die habe ich zu einem ganz wundervollen Instrument ausgebaut. Sie wissen um die Endlichkeit, aber die Gedanken kommen gar nicht erst. Meine Verdrängung ist wirklich fabelhaft. Ich kenne keinen, und ich kenne eine Menge alter Zausel, der daran rumkaut, morgens schweiß­überströmt aufwacht und Angst hat, dass es zu Ende geht. Das Schöne am Tod ist: Wir können ihn uns nicht vorstellen, also gibt es ihn auch nicht.

Kam Ihnen der Tod nicht mal nahe, als Ihnen 2013 ein Gehirntumor entfernt werden musste und Sie in der Folge an einer halbseitigen Gesichtslähmung litten?

Nein, das habe ich ganz gut weggesteckt. Auch da bin ich nicht auf die Idee gekommen, es geht jetzt zu Ende und ich müsste schnell noch ein paar Dinge regeln. Eher im Gegenteil: Ich bin immer schlampiger geworden im Umgang mit der Zeit. Auch das verdränge ich ganz gut. Ich sage Ihnen, hegen und pflegen Sie Ihre Verdrängung, die werden Sie noch brauchen. Ich sollte in der Volkshochschule einen Kurs einrichten oder, noch besser, Motivationsvideos machen und einen Sack voll Geld verdienen: Wie verdränge ich richtig. Wie werde ich diese 68er-Vorstellung los, Verdrängung sei schlecht.

Verdrängung reicht, um das Alter gut zu überstehen?

Es hilft jedenfalls. Außerdem: Auf Zukunft verzichten und im Augenblick leben. Damit das funktioniert, braucht man aber, auch wenn das banal ist, Freunde und Freundschaften, gut funktionierende soziale Kontakte. Das Beste ist immer noch der andere. Und wer da nicht in jüngeren Jahren schon vorgesorgt hat, der ist am Arsch.

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