Freiheit und weihevolles Understatement

Mauerfall, musikalisch: Die Singer-Songwriterin Patti Smith spielte in der Berliner Gethsemanekirche

Auch wenn es wie das Gegenteil von Rock ’n’ Roll klingen mag: Keine große Konzertbühne, kein verrauchter Club passt so zu Patti Smith in der Spätphase ihrer Karriere wie die Gethse­mane­kirche im Berliner Ortsteil Prenzlauer Berg, in der sie am Dienstagabend vor dem rot beleuchteten Altar steht, gekleidet in ihre typische Uniform der Kaffeehausliteratin: Blazer mit wehenden Ärmeln, weißes Hemd. An ihrer Seite der Musiker Tony Shanahan.

Es ist ein Konzert im Rahmen der Feierlichkeiten zum 30-jährigen Jubiläum des Mauerfalls und der Ort ein besonderer. Die Kirche im ehemaligen Ostberlin war ein wichtiger Ort für die Oppositionsbewegung im Herbst 1989, aber auch schon früher ein Refugium für Gegenkultur in der DDR. 1985 gründete sich dort eine Lesbengruppe.

Religiöse Sinnstiftung und Rebellion: Eben das perfekte Setting für Patti Smith, aufgewachsen in einer Familie, die den Zeugen Jehovas nahestand, als junge Frau angetreten, Rock mit Rimbaud vertraut zu machen, und später zur Meisterin des weihevollen Understatements gereift: Trotz fast protestantischer Bescheidenheit legt die späte Patti Smith noch in die kleinste Geste die Würde einer Priesterin. Oder Schamanin, wenn sie ihr Publikum mit ausgebreiteten Armen zum „Ghost Dance“ auffordert, zugleich gravitätisch und entrückt.

Schon am Vorabend war Smith mit einem Programm namens „Erinnerung“ im Berliner Pierre-Boulez-Saal aufgetreten, heute setzt sie ihre Minitour durch die Hauptstadt mit dem Abend „Mauern werden einstürzen“ fort. Ihr Konzert beginnt Smith, wie sie sagt, mit einer „Segnung für alle, die sich hier im Namen der Freiheit versammelt haben“: ihrem Song „Wing“. Eine Würdigung des Ortes und seiner Geschichte, bevor der Abend – wie schon das Konzert im Pierre-Boulez-Saal – zu einer Séance für die Toten ihres Lebens wird. Patti Smith musste früh von wichtigen Menschen Abschied nehmen; ihre Bücher, von der New Yorker Elegie „Just Kids“ bis zur Gedankenreise „M Train“, erzählen davon. Der Fotograf und Künstler Robert Mapplethorpe, der erst ihr Partner, später ihr Freund wurde; ihre Ex-Liebe Sam Shepard, der vor genau zwei Jahren verstorben ist; ihr Mann Fred „Sonic“ Smith und der Wegbegleiter Lou Reed: Keiner wird vergessen. Smith singt alte und neuere Stücke wie „My Blakean Year“, setzt die Lesebrille auf, um für ihren verstorbenen Ehemann aus Briefen von Beethoven zu lesen, und widmet Mapplethorpe eine Passage aus „Just Kids“. Tony ­Shanahan, der sich meist dezent im Hintergrund hält, singt „How Do You Think it Feels“ von Lou Reeds Album „Berlin“.

Das Programm, das wird schnell klar, ist keine Auftragsarbeit mit didaktischem Anspruch, sondern eher ein Best-of-Abend unter dem Vorzeichen der Erinnerung an den Mauerfall. Das Historische streift Patti Smith eher: Ihrem ewig schönen Song „Dancing Barefoot“ schickt sie Anekdoten darüber voran, dass sie es schon in Berlin gesungen hat, als man sie in den 70ern noch des Nachts zur Mauer führte. Um danach ihre Liebe zur Stadt zu betonen: Smith erzählt, was sie an diesem Novembertag gemacht hat (das Grab von Christoph Schlingensief besucht), was sie gegessen hat (Sauerkirschpfannkuchen im Café Pasternak), bevor sie den Auftritt erwartbarer-, aber trotzdem passenderweise mit „People Have the Power“ beschließt, ihrer großen Selbstermächtigungshymne. Es ist ein berührender Abend. Und ein Beweis, wie gut pastoraler Habitus und große Freiheitsversprechen zusammenpassen ­können. Julia Lorenz