Der „Rebbe“ und seine Schüler

Die jüdisch-orthodoxe Chabad-Bewegung richtet eine Grundschule ein. Der Einfluss der Gruppe um Rabbi Teichtal auf die Berliner Gemeinde wächst. Anderen Rabbinern ist das ein Dorn im Auge. Chabad, sagen Kritiker, betreibe einen Messiaskult

Rabbiner Teichtal verkündet die Schönheit der TraditionKritiker bezeichnen Chabad als Kuckuck im Nest oder gar als Sekte

VON AYALA GOLDMANN

Samstagmorgen in der Synagoge Münstersche Straße. In die Predigt des Rabbiners mischt sich das leise Tratschen der Mütter, in der Luft liegt eine Fröhlichkeit, die viele Juden in Berliner Synagogen lange vermisst haben. Dutzende von Betern haben sich eingefunden – und viele kleine Kinder. Es ist warm im Saal. Säuglinge krabbeln über den Teppich, eine Zweijährige mit roter Schleife im Haar rennt von der Frauenseite auf die Männerseite, wird dort von ihrer Mutter eingefangen und auf dem Arm an ihren Platz zurückgetragen.

Rinat Cohen (Name geändert), Mutter eines zwölfjährigen Jungen, besucht den Gottesdienst regelmäßig, obwohl sie kein religiöser Mensch ist. Warum dann gerade die Synagoge in der Münsterschen Straße, wo nach orthodoxem Usus eine Stellwand zwischen Frauen und Männern trennt? Ein Gotteshaus, das von Chabad Lubawitsch ins Leben gerufen wurde, einer umstrittenen, messianistisch geprägten jüdischen Bewegung? „Weil mein Sohn hier seine Bar-Mizwa feiern wollte“, sagt Rinat und lächelt. „Die Atmosphäre ist warm, sehr offen und freundlich, überhaupt nicht zeremoniell. Es ist sehr lebendig. Niemand kommt nur, um in der Synagoge gesehen zu werden.“

Der predigende Rabbiner ist Yehuda Teichtal – ein junger amerikanischer Jude im schwarzen Anzug, der mit leuchtenden Augen die „Schönheit der Tradition“ verkündet, in einer Mischung aus Jiddisch, Hebräisch und Englisch. Danach gibt es im Obergeschoss den Kiddusch-Segen über den Wein und einen kleinen Imbiss. Viele Juden in Berlin können sich das jüdische Leben ohne Teichtal und seine Chabad-Bewegung kaum noch vorstellen. Seine Gottesdienste sind schwungvoll, seine Ferienlager und seine Kinderkrippe gut besucht, und in diesem August richtet Chabad sogar eine eigene Grundschule ein. Mindestens 15 Kinder sind bereits aus der Grundschule der jüdischen Gemeinde abgemeldet worden, um in Zukunft eine intensive religiöse Erziehung mit Chabad zu genießen. Die Heinz-Galinski-Schule hat solche Bedürfnisse nach Ansicht einiger Eltern nur ungenügend erfüllt. Ob Chabad genug Kinder rekrutiert hat, um mehrere Klassen zu füllen, ist unklar. In jedem Fall aber hat Teichtal eine weitere jüdische Institution in Berlin etabliert, und er sonnt sich nicht nur „intern“ in seinen Erfolgen, sondern auch im wohlwollenden Licht der nichtjüdischen Öffentlichkeit.

„Ein Mensch ist ein Mensch“ ist einer von Teichtals Lieblingssätzen, und schon viele Menschen hat er mit amerikanischer Freundlichkeit und fröhlich-aggressivem Charme vor seinen Karren gespannt. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) kam zum Entzünden des großen Chanukka-Leuchters vergangenes Jahr am Brandenburger Tor. Als der israelische Außenminister Silvan Schalom die Holocaust-Gedenkstätte im Grunewald besuchte, erschien Teichtal plötzlich an der Seite des Politikers, als habe er ihn schon immer gekannt.

Albert Meyer, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, war bass erstaunt, als Teichtal im Januar zur Gedenkfeier des 60. Jahrestages der Befreiung von Auschwitz aus dem Flugzeug des damaligen Bundespräsidenten Johannes Rau stieg. „Eine Frechheit“, sagt Meyer, „der Gemeindevorsitzende kommt mit dem Auto und der Rabbiner fliegt in der Maschine des Bundespräsidenten.“ Aber Meyer sagt das fast bewundernd. Denn mit Chuzpe kommt man weit, und in Sachen Marketing macht Teichtal niemand etwas vor. Sogar in die Zeitschrift aktuell des Presse- und Informationsdienstes des Landes Berlin hat er es schon geschafft. Dort verkündet Chabad seine Botschaft für das deutsche Judentum nach der Schoah: „Wir wollen zeigen, dass es Licht gibt, wo zuvor Dunkelheit war.“

Womit Rabbiner Teichtal allerdings nicht umgehen kann, ist inhaltliche Kritik an seiner Bewegung, die in den USA und in Israel wegen messianistischer Tendenzen und der Unterstützung jüdischer Siedler heftig umstritten ist. Journalisten, die Berlin, Chabad und den Messianismus in einem Atemzug genannt haben, bekommen von Teichtal kein Interview mehr.

Der Name „Chabad“ ist eine Abkürzung für die drei hebräischen Worte Chochma, Bina und Daat – „Weisheit, Verstand und Wissen“. Chabad entstand im 18. Jahrhundert in Osteuropa als eine der Strömungen des Chassidismus, einer volkstümlichen Ausrichtung des Judentums, deren Anhänger sich stark an ihrem jeweiligen Rabbiner orientieren. 1813 verlagerte sich das Zentrum von Chabad ins weißrussische Lubawitsch – daher der zweite Name der Bewegung.

Später wanderten viele Chabad-Anhänger in die Vereinigten Staaten aus. In New York entstand das neue Zentrum. Dort übernahm der in der Ukraine geborene Menachem Mendel Schneerson, der siebte Lubawitscher „Rebbe“, 1950 die Führung. Erst Schneerson hat Chabad zu einer aktivistischen Bewegung gemacht, die in jeden Winkel der Welt ihre „Gesandten“ schickt. Anfang der 90er-Jahre, als es mit Schneerson gesundheitlich bergab ging, rief eine große Fraktion seiner Anhänger den todkranken „Rebbe“ zum Erlöser aus. „Bereitet euch vor auf die Ankunft des Messias“, verkündeten Sticker und Plakate in Israel und den USA. Doch Schneerson starb 1994 im Alter von 92 Jahren, ohne dass das messianische Zeitalter angebrochen wäre. Auch darauf fanden seine Anhänger eine Antwort: Der „Rebbe“ werde beizeiten aus seinem Grabe auferstehen und die Welt erlösen. Kritiker wie der orthodoxe New Yorker Rabbiner David Berger halten solche Theorien für zutiefst unjüdisch. Die Auferstehung des Messias, sagt Berger, sei eine rein christliche Lehre.

Liberale Juden stört vor allem die Vermischung von Religion und Politik. Wer Kfar Chabad, die 4.000-Seelen-Niederlassung der „Lubawitscher“ in Israel, besucht, kann an jeder Ecke das Konterfei des „Rebbe“ entdecken. Im Gebäude der Kinderkrippe verkündet die hebräische Bildunterschrift: „Der Messias“. Chabad-Sprecher in Israel ist Menachem Mendel Brod, ein höflicher Mann mit neun Kindern, der fließend Jiddisch spricht. Der „Rebbe“, sagt Brod, habe seinen Anhängern die Liebe zum ganzen Lande Israel befohlen – einschließlich der besetzten Gebiete. Im Wahlkampf 1996 hatte Chabad den Likud-Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten mit der Kampagne „Netanjahu ist gut für die Juden“ unterstützt. Auch beim Kampf gegen die für August geplante Räumung jüdischer Siedlungen spielt Chabad eine nicht unbedeutende Rolle. Chabad-Anhänger machen bei Demonstrationen gegen den Abzug der Armee aus dem Gaza-Streifen mobil, und Brod nennt den Plan von Ministerpräsident Ariel Scharon ein „Unglück“.

Yehuda Teichtal will von alledem nichts wissen. Israel sei Israel, Berlin sei Berlin, jede Chabad-Filiale arbeite entsprechend den Interessen vor Ort, und Messianismus sei in Deutschland kein Thema. Wenig wissen Berliner Juden über die ideologischen Hintergründe der „Lubawitscher“, die für ihre Kinder Ferienlager organisieren und für Sozialhilfeempfänger Feiertagspakete packen. Die Glaubenskrise nach der Schoah, der große religiöse Nachholbedarf der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion – „Lubawitsch“ hat Patentrezepte für alles. Gut ein Dutzend Chabad-Rabbiner arbeiten in der Bundesrepublik. Sie sind fest im Glauben, engagiert und finanziell unabhängig.

Albert Meyer macht sich keine Ilusionen: „If you can’t beat them, join them. Für mich geht es zwingend um den Erhalt der Einheitsgemeinde und darum, jede Form von Spaltung zu vermeiden.“ Auch ohne Hilfestellung könne Teichtal seine Pläne verwirklichen: „Deswegen halte ich es für besser, dass wir Bestandteil seiner Pläne sind.“

Teichtal ist kein offizieller Gemeinderabbiner. Das Chabad-Zentrum in der Münsterschen Straße wurde durch Spenden finanziert, nicht mit Mitteln der Gemeinde. Trotzdem sind andere Rabbiner wenig begeistert über den Rückhalt, den Chabad von Meyer erfährt. Etwa der orthodoxe Gemeinderabbiner Yitzchak Ehrenberg, dem Teichtal diverse Beter abspenstig gemacht hat. „Die probieren, die Gemeinde zu erobern“, sagt Ehrenberg. Reformrabbiner Walther Rothschild, ehemaliger Berliner Gemeinderabbiner, nennt Chabad eine „geistige Krankheit“ und Teichtal einen „Kuckuck im Nest“. Schritt für Schritt habe der seine eigene Infrastruktur aufgebaut, „und plötzlich denken die Leute, Moment, wir haben hier eine Riesenkonkurrenz finanziert“. Kritik an Chabad, sagt der als scharfzüngig bekannte Rothschild, komme in der Gemeinde nicht immer gut an: „Na ja, wir reden nicht von Terror, wir reden nicht von Gewalt, ich möchte überhaupt nicht übertreiben, aber man kann isoliert werden.“ Die liberale Rabbinerin Gesa Ederberg, Vertreterin der „Masorti“-Bewegung in Berlin, bezeichnet Chabad wegen des Kultes um Schneerson als Sekte.

Der vermeintliche Messias Schneerson lebte übrigens von 1928 bis 1932 in Berlin. Chabad-Forscher Menachem Friedman, Professor für Soziologie an der Bar-Ilan-Universität in Israel, hat im Archiv der Humboldt-Universität nach Spuren des „Rebbe“ gesucht. Schneerson, ein Philosophiestudent mit sowjetischer Staatsbürgerschaft, war für zwei Semester an der Uni eingeschrieben – als Gasthörer. „Sein Leben war angenehm, sein Schwiegervater hat ihm Geld geschickt, und so hat er sich finanziert“, sagt Friedman. Zuletzt lebte Schneerson in Tiergarten, bevor er nach Frankreich und später in die USA auswanderte.

Ohne Zweifel habe sich Schneerson für den Messias gehalten, sagt Friedman, aber sich selbst nie ausdrücklich als Erlöser bezeichnet. Das habe er anderen überlassen – ähnlich wie es nach neutestamentarischer Überlieferung Jesus Christus getan haben soll.