Premiere an der Berliner Schaubühne: Die Furcht auf dem Lande

Fremden zu helfen, ist gefährlich: Die belgische Regisseurin Anne-Cécile Vandalem inszeniert in „Die Anderen“ in Berlin ein düsteres Zukunfstbild.

Drei Gesichter hinter einer Windschutzscheibe, zwei leuchten weiß, das dritte ist dunkel übermalt.

Auf der Fahrt in das unheimliche Dorf: Veronika Bachfischer, Ruth Rosenfeld, David Ruland Foto: Arno Declair

Realismus kann packend sein, sogar im Theater. Den Beweis tritt ausgerechnet die eher fürs biedere Gesellschaftsabmalen bekannte Schaubühne in Berlin an. Die Koproduktion mit Anne-Cécile Vandalem, einer freien Regisseurin aus Brüssel, beschert dem Berliner Theater den Einblick in eine auf vielen Ebenen zerstörte Dorfgesellschaft mitten in Europa.

Die Klimakatas­trophe hat schon zugeschlagen, seit acht Monaten prasselt apokalyptischer Regen auf die Dächer hernieder. Die Stimmung ist düster, kaum jemand traut sich auf die Straße. Infrastrukturell ist das Dorf abgehängt. Busse fahren kaum noch, die Müllabfuhr holt die Säcke nur noch jenseits des Ortsschilds ab. Das Handynetz funktioniert nicht, weil Funkmasten für nur so wenige Einwohner nicht als rentabel gelten. Nicht einmal das Festnetz ist stabil.

Wer sich jetzt seine Bilder von abgehängten Dörfern in Mecklenburg-Vorpommern, in Nordfrankreich, in Süditalien oder Nord­england ausmalt, liegt sicher nicht falsch. Immer mal wieder huschen düstere mit Kapuzen bewehrte Gestalten durch den Regen. Sie können Bürgerwehr sein, der lokale Ku-Klux-Klan, aber auch ganz unschuldige vereinsamte Geschöpfe.

Atmospähre der Verlassenheit

Manchmal sind es auch Untote, die keine Ruhe in ihren Gräbern finden. Vandalem kreiert eine dichte Atmosphäre der Verlassenheit, unter deren Oberfläche der Horror schon brodelt. Man merkt es anfangs an Kleinigkeiten, am Messer, mit dem kleine Gänse für Schlüssel­anhänger geschnitzt werden, am ausgestopften Marder, auf dem wie zufällig der Blick der Kamera verweilt. Auch am Gewehr in der Glasvitrine im Amtszimmer des Bürgermeisters sowie an dem immer mal wieder in den Fokus geratenen Jagdschein wird die latente Bedrohung deutlich.

Die Traumata der Opfer-Täter-Gesellschaft sind politisch umrahmt

„Die Anderen“ ist in diesen Momenten ein präziser Dokumentarfilm, der mit Ausstattungsdetails und kalkulierter Kameraführung den Zusammenhang zwischen Verlassenheit und Verrohung spürbar macht. Das Schauspielensemble greift diese Atmosphäre auf.

Der nölende Grundton von Jule Böwe wird bei Hotelbesitzerin Alda zum Merkmal tief eingekerbter Frustration. Stephanie Eidt trifft die Jekyll/Hyde-Psyche der Lehrerswitwe Marge mit dem Gegensatzpaar aus hysterischen Ausbrüchen und fragiler Nettigkeit perfekt. Felix Römer legt einen aasigen Dorfschulzen hin, der nach außen noch die Illusion vom Funktionieren der Institutionen aufrechterhalten kann, innerlich aber verrottet ist. Ruth Rosenfeld schließlich ist Fabelgestalt, halb Mensch, halb Tier: eine Frau, eingehüllt in Tierfelle, die Geräusche von sich gibt und sphärische Lieder und die erst recht Erschrecken verbreitet, wenn sie nur spricht.

Hilfe für Geflüchtete unter Strafe gestellt

Diese Gesellschaft ist einerseits eine Opfergemeinde. Durch einen Amoklauf in der Schule verlor sie ihre Kinder. Sie übte Rache, wie sich herausstellte, aber Rache an Unschuldigen. Über die Verstrickung in Opfertraumata und abgewehrten Schuldgefühlen legt Vandalem, zugleich Autorin des Textes, noch politisch motivierte Grausamkeit.

"Die Anderen" wieder an der Schaubühne in Berlin 3. bis 8. 12. 2019, 24. bis 27. 1.2020.

Das, was sie zeichnet, ist ein nicht näher benanntes europäisches Land im allerdings explizit erwähnten Jahr 2023. Dort wurde ein Gesetz erlassen, das die Hilfe für Geflüchtete unter Strafe stellt. Parolen von rechts außen, Sprüche nationalistischer Geiferer sind in dieser Bühnenfiktion also in Gesetze gegossen. Historische Vergleiche ploppen auf. Ist 2019 die Wiederkehr von 1929?

Die Traumata dieser dörflichen Opfer-Täter-Gesellschaft sind politisch umrahmt. Und der Rahmen hat Einfluss. Wie Eisenspäne in einem Magnetfeld richten sich die Reste menschlichen Empfindens aus. Wer Fremden noch helfen will in einem Anflug von Nächstenliebe, muss die Ordnungsmacht fürchten. Wer sich seinem Hass auf alles Fremde hingibt, findet Geborgenheit im grausamen Gesetz. Denn natürlich kommen die Fremden: ein Mensch ohne Pass erst, dann eine Sozialarbeiterin, die dessen Verschwinden aufklären will.

Wie diese beiden ausgelöscht werden, zeigt die Inszenierung mit einem Wechsel ins Horrorfach. Die neuen Morde sollen den alten Mord tilgen, kerben die Blutrünstigkeit aber nur noch tiefer ins Fleisch. In einem großen Bühnenwurf verschränkt Vandalem die Abgehängtseinsgefühle autochthoner Bevölkerungsgruppen in Europa mit White-Trash-Charakteristika aus den USA und dem Genrekino zwischen „Kettensägenmassaker“ und „Schweigen der Lämmer“. Illusionistisches Theater, das eindrucksvoll desillusioniert.

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