Fein gesponnene Gewebe

Das von Renate Graziadei und Arthur Städeli gebildete Kollektiv laborgras feierte dieses Jahr sein 25-jähriges Bestehen. Mit seinem vierteiligen Stück „in the land of small details“ endete das Tanzjahr im Radialsystem

Renate Graziadei tanzt mit einer Lichterscheinung Foto: Phil Dera

Von Katrin Bettina Müller

An den letzten Tagen des Jahres glaubt man eigentlich nicht, dass mit dem neuen Jahr wirklich etwas Neues beginnt. Auch wenn eine Transformation wünschenswert wäre.

An den letzten Tagen des Jahres 2019 hat die Tänzerin Renate Graziadei trotzdem an der Transformation gearbeitet, an der Transformation des Körpers und seiner Wahrnehmung. Sie zeigte im Radialsystem „in the land of small detail“. Auch wenn sie die einzige Tänzerin auf der Bühne war, so ist es doch mehr als ein Solo, denn ihre Bewegungen stehen im Dialog mit grafischen Videoprojektionen von Frieder Weiss, die mit schwarzen Strichen wie Regen an einem Vorhang aus Schnüren her­abtropften oder sich wie Vogelschwärme ausbreiteten.

Zusammen mit Arthur Städeli bildet Renate Graziadei das Kollektiv laborgras, das 2019 sein 25-jähriges Bestehen feierte und mit dieser Performance abschlos Beide zusammen entwickeln Konzept und Choreografie, sie ist die Ausführende.

Mit einer Luftnummer beginnt „in the land of small detail“, kopfüber hängt die langgliedrige Tänzerin in einem Gurt, das Gesicht nah am Boden, die langen Beine nach oben gewinkelt. Die schmalen Arme fahren den Rücken entlang, Hände flattern, befühlen den Nacken, der Kopf dreht sich wie auf Orientierungssuche. Man könnte an ein schlüpfendes Insekt denken, das erst langsam ein Bewusstsein von seiner Umgebung erlangt. Sie krabbelt schließlich dicht über den Boden, die Ellbogen zeigen spitz nach außen, bis sie aufwärts schießt, sich dreht und fliegt.

Was man in ihrer Figur sehen kann, verändert sich ständig. In dem Gurt mit Schwung nach vorne pendelnd erinnert sie mal an die Engel in barocken Deckengemälden, die alle Schwerkraft vergessen lassen, dann wieder baumeln ihre Glieder fast passiv herab, keine Spannung mehr nirgendwo.

Im zweiten Teil geht sie ein Duett mit ihrem verdoppelten und verbreiterten Schatten ein, der hinter ihr über Stoff und Schnüre wandert. Während sie erst synchron mit ihm tanzt, kommt es irgendwann zu Abweichungen, und man weiß nicht mehr, erzeugt sie die dunklen Schemen auf der Leinwand oder ahmen diese sie nur nach? Über allen drei ziehen grafische Gebilde aus Punkten und Strichen hinweg, dehnen sich, drehen sich, verdichten sich, ein Feld von Energie in ständiger Bewegung.

Der dritte Teil der Performance beginnt mit roboterähnlichen Bewegungen, Gelenk für Gelenk ein kurzes Ausprobieren der Richtungen, Muskel für Muskel ein Austesten des Spielraums, kleine, angehaltene Bewegungen, bis in die Mechanik Fluss und Anmut hineinkommt. Diesmal sind es helle Gespinste aus lichtvollen Linien, die Graziadeis ungreifbaren Partner bilden. Im vierten und letzten Teil versucht sich die sehr schlanke Tänzerin an Erdenschwere: Mit einem Fatsuit will sie sich in die Imagination eines schweren Körpers hineinbegeben, ihren anmutigen Bewegungen einen Widerstand entgegenstellen – was nicht so gut gelingt. Diese letzte Transformation bleibt doch sehr Verkleidung, ohne zu neuen Wahrnehmungen des Körpers zu gelangen.

Denn auch darum geht es „in the land of small detail“, einen anderen Blick auf das Vertraute zu bekommen. Doch wirklich überraschende Momente sind rar in dieser Choreografie. Hinzu kommt, dass die Musik, von Kai von Glasow live in der Performance erzeugt, über weite Strecken dunkle bis depressive Klangteppiche ausbreitet und dann mit hellen Tönen eine Atmosphäre von Verklärung und Verheißung erzeugt, als käme gleich die Elfenkönigin persönlich. Das macht aus dem fein gesponnenen Tanz und den Geweben aus Licht am Ende dann doch einen etwas kitschigen Abend.