Dem Heldenkind gehört die Zukunft

Gregor Gysi wird am 16. Januar 1948 in Berlin geboren. Er ist der Sohn von antifaschistischen Widerstandskämpfern. Von Siegern der Geschichte.

Das Heldenkind Gregor Gysi wächst auf in der Gewissheit, dass ihm die Zukunft gehören soll – jene Zukunft, in deren Namen seine Eltern unter Hitler ihr Leben riskierten.

Die Eltern bewohnen in der Waldstraße 37 in Johannisthal, einer eher bürgerlichen Gegend im Südosten Berlins, ein großes Haus mit Garten. Überall stehen Bücher und wertvolle Kunstwerke. Gleich im Eingangsflur hängt ein signiertes Bild von Helene Weigel, der Frau Bertolt Brechts. Es herrscht eine offene, tolerante Atmosphäre, es geht entspannt zu. Als Zweitgeborenem wird dem Sohn die besondere Liebe der Mutter zuteil, er ist der kleine Prinz der Familie. Gregor ist zwei Jahre jünger als seine Schwester Gabriele; sie wurde am 13. Juli 1946 geboren.

Klaus und Irene Gysi machen in der gerade gegründeten DDR Karriere. Zu Hause kümmert sich ein Kindermädchen, das „Schätzchen“, um den Haushalt und die beiden Kinder. Das Mädchen wird Gregor und Gabriele fast zu einer zweiten Mutter, sie holt sie aus dem Kindergarten ab, mit ihr besprechen sie auch die meisten großen und kleinen Sorgen des Alltags. Diese Form der Erziehung ist für Irene Gysi nichts Besonderes, sie selbst ist als Kind in Russland und später in Deutschland von einer Nana großgezogen worden. In der DDR zu Anfang der Fünfzigerjahre ist ein Haushalt mit Kindermädchen jedoch eine Seltenheit.

Den meisten DDR-Bürgern bleibt die Welt versperrt, zu den Gysis kommt sie nach Hause. Kampfgefährten aus der Zeit der Emigration, Künstler, Theaterleute, Schriftsteller, Freunde und Bekannte aus Russland, Frankreich, Südafrika, Großbritannien und den USA, die Verwandtschaft, die über die halbe Welt verstreut ist – das Haus in Johannisthal ist oft voller Besucher. Die meisten von ihnen sind gebildet, kultiviert und teilen die politischen Ansichten der Eltern.

Diese Welt des kleinen Gregor Gysi kennt keine Grenzen. So ist es nicht verwunderlich, dass er Jahre später einräumt, die Abschottung der DDR in ihrem wirklichen Ausmaß lange nicht wahrgenommen zu haben. Und es erscheint nur logisch, dass Gysi kein Heimat- und Vaterlandsgefühl ausgeprägt hat. „Ich bilde mir ein, ein wirklicher Internationalist zu sein“, erklärt er 1991 in einem Interview. „Die Frage der Nationalität eines Menschen, auch seiner Religion, interessiert mich vielleicht an vorletzter Stelle, um nicht zu sagen, an letzter.“ Ganz der Sohn, dessen Mutter in Russland geboren wurde, in Deutschland zur Schule ging, in England studierte und in Frankreich interniert war. „Hat Heimat für Sie eine Flagge?“, ist Irene Gysi 1993 gefragt worden. Ihre Antwort: „Ich bin Europäerin.“

Während in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg die heimkehrenden Männer kollektiv schweigen, wird in der Familie Gysi geredet. Für Klaus und Irene Gysi gibt es viel, worauf sie stolz sein können. Als ihre Kinder älter werden, malen sie ihnen gern und oft ihre Heldengeschichten aus. Ihre Verfolgung als Juden, ihre Gefangenschaft in Frankreich, ihr Widerstand gegen Hitler verleiht den Eltern eine solche moralische Autorität, dass in den Augen der Kinder ihr kleiner Alltag dagegen umso unbedeutender erscheint. Doch merkwürdig: Die Heldengeschichten rufen keinen Trotz hervor, im Gegenteil, sie scheinen die Bindung an die Eltern noch zu verstärken.

Ein altes Foto zeigt Gregor Gysi inmitten seiner Klassenkameraden. Er ist vielleicht sieben oder acht Jahre alt. Vor ihm und seinen Mitschülern sitzt Klaus Gysi, der junge Kulturfunktionär, und erzählt davon, so scheint es, wie ehrenvoll es ist, diesen neuen Staat mit aufbauen zu dürfen. Der Gesichtsausdruck seines Sohnes lässt keinen Zweifel zu: Der kleine Gregor Gysi betet seinen Vater an.

Nur wer sich in der Welt seiner Eltern so behütet fühlt, kommt als Kind auf die Idee, den neuen Herren dieses neuen Landes einen netten, frechen Brief zu schreiben. Hern Minster. Mistärium für Kultur. Berlin. Molken Markt 1 bis 3 steht in krakeliger Schrift auf dem Umschlag. Am 9. Dezember 1956 schickt der 8-jährige Gregor Gysi einen Brief an Johannes R. Becher, den berühmten DDR-Kulturminister. Lieber Minister, beginnt er. Er schreibt mit Bleistift auf liniertem Papier. In frühem Stilempfinden unterteilt Gregor Gysi den Brief in vier Abschnitte, womit möglicherweise kleine orthographische Unebenheiten elegant kaschiert werden sollen. I. Teil. Lieber Minister ich möchte gerne das auch bei ihn eine Weihnachtzfeier stattfindet. Weil in jeden Betrieb eine Weihnachtzfeier stattfindet.

II. Teil. Ich möchte mich beschwären das sofiele Filme nicht zugelaßen sind. Wenn ich soald bin werden diese Filme nicht mehr gespielt. Und darum bitte ich alle Filme zugelassen sind.

III. Teil. Ich beschwere mich dass das Theater der Freundschaft Stücke spielt, die unter 14 Jahre nicht zugelasen sind, und darum bette ich daß daß Theater der Freundschaft für alle Kinder zugelaßen wird.

V. Teil. Ich würde sogerne in einer Oper gehen, aber alle Opers werden erst nach 9 Uhr geschlossen. Und darf ich nicht mehr auf der Straße sein. Auch wenn ich mit meinen Ältern bin. Wegen Jugentgesetz.

Unterschrieben ist der Brief ganz selbstbewusst mit Gregor Gysi 8 Jare alt. Berlin Johnistahl Waldstraße 37.

Aber nur wer in dieser neuen Welt auch zu Hause ist, bekommt auf einen solchen Brief eine ordentliche Antwort. Gregor Gysis Vater ist mit Johannes R. Becher befreundet, er verdankt ihm einige seiner bisherigen Posten in der DDR. Lieber Freund!, schreibt also der Herr Kulturminister an den Jungpionier Gregor Gysi am 14. Dezember 1956 zurück. Zu Teil I: Eine Kinderweihnachtsfeier findet am 20. Dezember statt.

Zu Teil II: Deine Beschwerde, daß zu viele Filme für Jugendliche unter 14 Jahren nicht zugelassen sind und ebenso auch Theaterstücke nur von jungen Menschen über 14 Jahre besucht werden dürfen, ist berechtigt, und ich habe mich an die betreffenden Stellen gewendet, um hier vielleicht im Rahmen dessen, was möglich ist, eine Änderung herbeizuführen.

Was den Opernbesuch anbelangt, so unterhalte Dich darüber einmal mit Deinem Vater. Ich glaube, daß das schon eine besondere Oper sein müßte, die ein Kind in Deinem Alter versteht. Alles kommt mit der Zeit und nicht auf einmal, und für einen achtjährigen Jungen ist eben nun einmal nicht alles zu begreifen wie für einen Jungen von 14 Jahren oder für einen erwachsenen Menschen.

Mit den besten Grüßen

Dr. h. c. Johannes R. Becher

Nicht die Antwort an sich wird Gregor Gysi verwundert haben, sondern die Tatsache, dass selbst ein Dichter wie Becher einem kleinen Jungen Sätze in bestem Funktionärsdeutsch zukommen lässt, in denen die Probleme von „betreffenden Stellen“ gelöst werden, selbstverständlich nur „im Rahmen dessen, was möglich ist“. Gregor Gysi wird das nicht umgeworfen haben, im Gegenteil. Wahrscheinlich hat er den Brief stolz seinen Schulkameraden gezeigt.

Die Heldenerzählungen im Hause Gysi, der weltläufige Besuch, der berufliche Aufstieg der Eltern – all dies hält die außergewöhnliche Familiengeschichte für die Gysi-Kinder lebendig. Gregor besucht in den fünfziger Jahren gelegentlich sogar seine Oma Tatjana Lessing in Westberlin. Die alte Dame von Adel – die geborene Frau von Schwanebach! – wohnt zusammen mit ihrer Haushälterin Mascha in einer Dreizimmerwohnung in Berlin-Nikolassee. Großvater Lessing war 1950 gestorben. Die Besuche bei seiner Großmutter müssen den zehnjährigen Jungen gleichermaßen beeindruckt wie verstört haben. Obwohl die beiden alten Damen schon seit ihren gemeinsamen Jahren in Russland zusammenwohnen, spricht Mascha, die Haushälterin, die Großmutter mit „Sie“ und „Frau Lessing“ an. Die wiederum duzt Mascha standesgemäß.

Gregor Gysi erlebt mit, welche merkwürdigen Gestalten in der Wohnung der Oma Lessing ein und aus gehen. Ein „Herr Hauptmann“ aus dem Ersten Weltkrieg, eine „Tante Ida“, die einen Baron heiratet, nur um seinen Adelstitel zu erwerben, und die sich ansonsten damit vergnügt, Dienstmädchen einzustellen und wieder zu entlassen. Die Einzige, die der kleine Junge aus dem ostdeutschen Arbeiterstaat leiden kann, ist Mascha. Sonst erblickt Gregor Gysi in dieser komischen Gesellschaft in Nikolassee nur die Zeichen einer „untergegangenen Welt“. Im Rückblick übertrug sich dieses Bild in seiner Kindheit auf ganz Westberlin: „So hatte ich einen Eindruck verstaubter Realitätsferne. Hier offenbarten sich extrem gegensätzliche Welten und Lebensweisen. Da waren die steifen Umgangsformen, die eingestickten Monogramme auf Bettwäsche, Damasttischtüchern und Servietten, gravierte Serviettenringe und silberne Messerbänkchen, der distanzierte Umgang mit Angestellten – und daneben die einfache Mascha.“

Vor dem Mauerbau am 13. August 1961 sollte Gregor Gysi Westberlin nur einmal anders erleben. Freunde seiner Eltern aus Frankreich holen ihn und seine Schwester mit einem Mercedes zu Hause ab, fahren durchs Brandenburger Tor, zeigen ihnen den Funkturm, gehen im Hilton Hotel mit ihnen essen und anschließend ins Kino. Einen Monat später ist diese Glitzerwelt eingemauert.

Wenn Kinder aus der Nachbarschaft die Gysis zu Hause in Johannisthal besuchen, dann sind einige von ihnen genauso beeindruckt und verstört wie Gregor Gysi in der „untergegangenen Welt“ in Westberlin. Selbst vierzig Jahre später kann man das kindliche Erstaunen noch heraushören. „Das Elternhaus war faszinierend“, erzählt eine Schulfreundin. „Die Mutter trat auf wie so eine alte Gräfin. Die hatten unwahrscheinlich viel Bücher und ein Kindermädchen.“

Und eine französische Großmutter. Erna Gysi, das Handschuh-Model, die Kommunistin der Zwanzigerjahre, kommt nur selten aus Paris in die DDR. Es ist nicht ganz klar, ob sie ihrem Sohn Klaus nur Ärger wegen der Westverwandschaft ersparen will oder mit dem sozialistischen Experiment in der DDR schon nichts mehr anfangen kann. Klaus Gysi jedenfalls muss gegenüber seinen ewig misstrauischen Genossen erklären, warum seine Mutter den Ruf der deutschen Kommunisten, in Ostdeutschland einen neuen, antifaschistischen Staat aufzubauen, konsequent überhört und einfach in Frankreich bleibt. „Als sechzigjährige Frau, die dort wieder einen Mann gefunden und sich eingelebt hat, hat sie offenbar die Absicht, dort zu bleiben“, schreibt er am 27. Januar 1951 in einem Lebensbericht für die Zentrale Parteikontrollkommission. „Sie steht auch heute noch von Grund auf positiv zur Partei, zur Sowjetunion, ohne jedoch meines Wissens noch aktiv oder organisiert zu sein. Sie ist außerdem ziemlich krank. Unser persönlicher Kontakt ist gering und beschränkt sich auf äußerst raren, etwa halbjährlichen Briefwechsel.“ Diesen Kotau wiederholt Klaus Gysi am 10. Mai 1961, diesmal verzichtet er jedoch auf den letzten Satz. Er will nicht abermals den Eindruck erwecken, seine Mutter überhaupt nicht mehr zu sehen.

Gregor Gysi bekommt von dem offiziellen Misstrauen gegenüber seinem Vater und seiner Großmutter in dieser Zeit kaum etwas mit. Er genießt die wenigen Tage und Wochen, die seine Großmutter in Berlin ist. Die gebildete, warmherzige Frau weitet den Horizont ihres Enkelsohnes. Besonders beeindruckt ihn, dass seine Oma die Menschen ständig in Juden und Nichtjuden scheidet. Es provoziert seinen kindlichen Widerspruch. Hat er zu Hause nicht gelernt, dass Religion und nationale Herkunft nur wenig, Charakter und Leistung aber umso mehr bedeuten? Es sei nicht gerecht, die Menschen in Juden und Nichtjuden zu unterteilen, erklärt er seiner Großmutter eines Tages. Entscheidend sei doch, ob jemand ein guter Komponist oder ein begabter Geiger sei. Da zischt Erna Gysi ihren Enkel mit einem einzigen Satz an: „Das war nun mal das entscheidende Element in meinem Leben, davon hing mein ganzes Schicksal ab.“ So streng hat sie später nie wieder mit ihm geredet.

Das Thema Juden ist bei den Gysis, im Gegensatz zu anderen Familien jüdischer Kommunisten, nicht tabu. Es gehört zum Familiengespräch, wenn auch der großmütterliche Wutausbruch vermutlich die Ausnahme bleibt. Gregor Gysis Vater behauptet von sich, ein Heide zu sein. In seinen Heldengeschichten vom antifaschistischen Widerstand fällt das Wort „Kommunist“ viel häufiger als das Wort „Jude“. Wenn er von Juden erzählt, so spricht er meist von Benachteiligten, Unterprivilegierten, kleinen verzweifelten Händlern, die um ihre Existenz oder ihr Leben bangen. Seine Geschichten erwecken fast immer Mitleid mit den Juden. Wenn Gregors Mutter die Juden erwähnt, dann sind dies oft besondere Persönlichkeiten, berühmte Künstler oder erfolgreiche Wissenschaftler Menschen, die sie schätzt und mag.

Zwischen väterlicher Verharmlosung und mütterlichem Stolz ist in der Familie kein Platz für religiöse Traditionen und Bräuche. Wie schon sein Vater in den Dreißigerjahren zieht Gregor Gysi die Erkenntnis: „Jude war man von Geburt an, man konnte es sich nicht aussuchen. Kommunist und deshalb verfolgt zu sein das hingegen war ein bewußter Vorgang.“

Die Erfahrung, mit verschiedenen Kulturen und Welten konfrontiert zu sein, macht Gregor Gysi schon früh. Die Waldstraße in Johannisthal wird auf der einen Seite von großen Zweifamilienhäusern mit Garten gesäumt, während sich gegenüber graue, vierstöckige Mietshäuser aneinander reihen. Hier leben Leute wie Gregor Gysis Eltern, Antifaschisten, die in der Hitler-Diktatur mit dem Leben davongekommen sind und jetzt das Sagen haben – dort leben Deutsche, die eben noch dem Führer zujubelten oder gar für Volk und Vaterland kämpften, Arbeiter und Angestellte, die jetzt von den Antifaschisten vis-à-vis regiert werden.

In der 8. Grundschule in Johannisthal, die Gregor Gysi von 1954 bis 1962 besucht, bleiben die Kommunistenkinder in der Minderheit. In Gysis Klasse sitzt nur noch ein weiterer Junge, dessen Eltern Mitglieder der SED sind. Die beiden gelten als „die Roten“ und fühlen sich ein wenig isoliert. „Selbst wir Kinder spürten das lauernde Mißtrauen“, erinnert sich Gregor Gysi. „Streitereien auf dem Schulweg hatten häufig politischen Charakter.“

Das Trennende, dieses Wir und Ihr, das Gefühl von latenter Fremdheit wird von den jüdischen Kommunisten in der DDR nicht bewusst gelebt. Doch für sie und ihre Kinder ist es stets gegenwärtig. Gregor Gysi ist fast genauso alt wie das neue Land, in das er hineingeboren wurde. Er ist ein Kind der DDR. Aber er ist ein besonderes Kind einer besonderen DDR. Ein Außenseiter – und gleichzeitig privilegiert. Die Gysis gehören nicht zur Mehrheit in dieser Gesellschaft. Sie und ihre Genossen sind die herrschende Minderheit.

Viele jüdische Intellektuelle in der DDR leben, mehr noch als die Ulbrichts und Piecks, die proletarischen Parteikader, in einer Art selbst gewählter Isolation. Es waren schließlich Deutsche, die ihre Familien und Freunde vergast hatten. Die jüdisch-kommunistischen Familien, unter ihnen viele Westemigranten, pflegen häufig nur mit anderen Westemigranten engen Kontakt. Sie verbindet ein unsichtbares Band. Sie reden, wie alle SED-Funktionäre, ständig vom Volk, aber sie leben in einer anderen Welt als das Volk. Sie sind in einer anderen Kultur groß geworden, haben andere Lebenserfahrungen und Wertevorstellungen. Sie sind gebildet, kultiviert, weltgewandt. Die meisten von ihnen können nicht Russisch, aber sie beherrschen die Weltsprachen Französisch und Englisch perfekt. Sie verkörpern die angeblich gute sozialistische Variante der Bourgeoisie; einer Bourgeoisie, die zu bekämpfen sich die DDR auf ihre Fahnen geschrieben hat. Sie sind eine Art rote Aristokratie.

Die Kinder jüdischer Kommunisten erzählen von frühen Erfahrungen unterschwelliger Fremdheit in der DDR. Irene Runge, Tochter des Kunsthändlers und Publizisten Georg Friedrich Alexan, ist 1942 in New York geboren und 1949 als selbstbewusstes amerikanisches Mädchen nach Ostdeutschland gekommen. Ihre Eltern kannten die Gysis. Ihr Lebensgefühl in den Fünfzigerjahren beschreibt sie so: „Immer läuft dieser Film ‚Nazi‘ mit, die Frage, was die Eltern der anderen damals gemacht haben, und dann stelle ich die Frage so gut wie nie. Dieses Mißtrauen, das hat sich mir eingeprägt, das bin ich nicht mehr losgeworden, dieses Unbehagen, besonders dann, wenn es so richtig laut und lustig zugeht. Dann fühle ich mich ausgeschlossen.“

Annette Leo, Jahrgang 1948, ist mit ihren Eltern 1952 in die DDR gekommen. Ihr Vater Gerhard Leo, ein bekannter Journalist, hat in der französischen Résistance gekämpft und ist im Sommer 1945 aus Frankreich zunächst nach Düsseldorf zurückgekehrt. Annette Leo erzählt, sie habe als Kind geglaubt, in der DDR lebten nur Widerstandskämpfer und Antifaschisten, Leute wie ihre Eltern und deren Freunde, die nach 1933 alle aus Deutschland emigrieren mussten. Sie sei ganz erstaunt gewesen, als sie eines Tages bei ihrer besten Freundin im Fotoalbum geblättert und deren Eltern in HJ-Uniform gesehen habe. „Wir haben uns nicht getraut zu fragen, was ihre Eltern im Krieg gemacht haben.“ Als Annette Leo eines Nachmittags mit ihrer Freundin einen Film über Werner Seelenbinder sieht, einen von der DDR verehrten kommunistischen Arbeitersportler, kommt der Vater der Freundin ins Zimmer und überlegt einen Moment lang, ob er den Fernseher ausmacht. „Er mochte mich nicht“, erinnert sich Annette Leo. „Aber er hatte auch ein bisschen Angst vor mir. Meine Eltern gehörten schließlich zu denen, die in der DDR jetzt das Sagen hatten. Plötzlich bemerkte der Vater meiner Freundin spitz, Seelenbinder, das sei doch der, der später gestorben ist. Da habe ich geantwortet: ‚Seelenbinder ist nicht gestorben, er ist von den Nazis geköpft worden.‘ Der Vater drehte sich um, ging raus und knallte die Tür hinter sich zu. Da begriff ich, der lebt auf einem ganz anderen Stern als ich.“

Bei Gregor Gysi entlädt sich das Misstrauen einmal sogar in einer regelrechten Prügelei. Das ist schon deswegen bemerkenswert, weil sich der junge Gregor, der von vielen als klein, rund und sehr weich beschrieben wird, sonst eigentlich nie prügelt. Ein Schulkamerad behauptet, die Russen hätten nach dem Krieg deutsche Frauen vergewaltigt. Obwohl die beiden acht-, neunjährigen Jungen nicht genau wissen, was eine Vergewaltigung ist, sie also nur ahnen, dass es etwas Schlimmes sein muss, sieht der Gysi-Sohn die sowjetischen Befreier seiner Eltern als russische Verbrecher verunglimpft. Das verletzt seine kindliche Ehre. Er schlägt zu.

Am Abendbrottisch zu Hause fragt er seinen Vater, ob es zutreffe, dass die sowjetischen Soldaten deutsche Frauen vergewaltigt hätten. Darauf erhält der kleine Gysi vom großen Gysi die erste Lektion in Sachen Dialektik. Im Prinzip stimme es nicht, was der Junge gesagt habe, erklärt Klaus Gysi. Im Einzelfall jedoch habe es Vergewaltigungen deutscher Frauen gegeben. Man müsse aber auch sehen, wie es dazu gekommen sei. Schließlich hätten deutsche Soldaten furchtbar in der Sowjetunion gehaust. Die Rotarmisten hätten schlimme Entbehrungen erfahren und natürlich auch Hass entwickelt.

Einfache Wahrheiten, das lernt Gregor Gysi, sind selten zu haben. Rückblickend sagt er über seinen Vater: „Er konnte dich in einer halben Stunde von etwas überzeugen. In dem Moment, in dem du es glaubtest, sah er dich an und sagte: ‚Man kann es übrigens auch noch ganz anders sehen.‘ Dann brachte er zu Fall, was er dir mühselig aufgebaut hatte in der Birne.“ Das ist der Gysi-Stil. „Zu dieser Familie gehört zwingend, dass alle gern und viel reden“, sagt Gregor Gysi.

Irene Runge berichtet ebenfalls davon, dass sie als Kind nie ihren Mund halten konnte. Das kannte sie von zu Hause nicht anders. Dort wurde ständig diskutiert. Das habe auch mit dem Judentum zu tun, erklärt sie. „Bloß nichts wegdrücken, alles aussprechen. Diese unentwegten Diskussionen um alles mit jedem, dieser endlose Dialog, das ist ein Teil der Kultur. In dieser Weise haben unsere Vorväter mit Gott und untereinander gesprochen, und das ist uns als Methode des Denkens geblieben.“

Bei Gysis kommt noch etwas hinzu: der besondere Humor, der Hang zur Ironie, auch die Fähigkeit zur Selbstironie. Klaus Gysi trägt seinen leicht wehmütigen, manchmal auch zynischen Humor wie einen Schutzschild vor sich her. Sein Humor entspricht auch der Verzweiflung, die er zwischen 1933 und 1945 empfunden haben muss. Und er hilft ihm jetzt, sich die Widrigkeiten des neuen Lebens in der DDR vom Leib zu halten und sich dem Disziplinierungsdruck der SED gelegentlich zu entziehen. Klaus Gysi hat den Witz, den der große Theatermann George Tabori als „überlebenswichtig“ bezeichnet hat: „Inhalt eines jeden Witzes ist die Katastrophe“, sagt Tabori. „Der Witz ist sozusagen ein Rettungsring, nicht Flucht vor der Realität, sondern Realität. Und es stimmt ja, wenn man die schlimmsten Dinge, ob es eine Probe oder eine Beziehung ist, als Überlebender erzählt, lacht man darüber. Diese Fähigkeit müsste man eigentlich haben, während das Schlimme passiert.“ Klaus Gysi kann den Witz als subversives Potenzial nutzen. Als er im August 1940 mit dem Zug illegal von Freiburg nach Berlin zurückfuhr, hat er, der jüdische Kommunist, die mitreisenden Nazis mit Witzen unterhalten.

Klaus Gysi erzählt besonders gern jüdische Witze. Seine Lieblingswitze sind typisch für ihn selbst: Sitzen zwei Rabbis zusammen und überlegen, ob man, während man die Thora liest, rauchen darf. Fragt der eine Rabbi: „Darf man beim Lesen der Thora rauchen?“

„Um Gottes willen, nein!“, antwortet der andere Rabbi.

Darauf der erste Rabbi wieder: „Darf man beim Rauchen die Thora lesen?“

Später schreibt Gregor Gysi: „Vater war sowohl Faxenmacher und Clown als auch ernsthafter Aufklärer, der Einsichten vermitteln wollte.“