Rechtsradikaler Terror und die Opfer: Apfelbaum voller Früchte

Weiterleben nach den NSU-Untaten: Aysun Bademsoy hat mit „Spuren“ einen sensiblen Dokumentarfilm mit Angehörigen der Ermordeten gedreht.

Familie Kubaşık

Die Familie Kubasık, als der Vater noch lebte Foto: Edition Salzgeber

Was für ein idyllisches, ja, poetisches Bild: dieser Blumenverkaufsstand an einer grün bewaldeten Straße. Alles scheint sonntäglich ruhig, kein vorbeibrausendes Auto stört die Szenerie. Ein großer, fröhlich zweifarbiger Marktschirm schützt die bunt blühende Ware vor der Sonne. Es ist ein kleiner visueller Schock, als die Kamera wenig später auf ein schwarz-weißes Tatortfoto in einer Zeitung hält: Alles sieht fast genauso aus wie jetzt, sogar der Schirm war ja damals derselbe!

Genau hier, beim Blumenverkaufen im Grünen, wurde am 9. September 2000 Enver ­Sim­sek erschossen, ermordet von deutschen Neonazis. Simsek hatte sich mit einem Blumengroßhandel ein Business aufgebaut in Deutschland. Nun hängt zum Gedenken an ihn sein Foto an einem Baum neben seinem mobilen Verkaufsstand.

Der Verkäufer Ali Toy, der schon damals für den Blumenhändler arbeitete, hat es dort angebracht und daneben ein paar fruchttragende Gehölze gepflanzt: einen Walnuss-, einen Kirsch- und einen Apfelbaum. Der Apfelbaum hängt voller Früchte, die er stolz der Kamera präsentiert. In den siebzehn Jahren seit Simseks Ermordung sind die Bäume zu stattlicher Größe herangewachsen.

Die Berliner Dokumentarfilmerin Aysun Bademsoy sucht in „Spuren“ nach dem, was vom Leben der durch den NSU Ermordeten bleibt, vor allem aber nach den unsichtbaren Spuren, die ihr gewaltsamer Tod in den Seelen der Angehörigen hinterlassen hat.

Zehn Leben ausgelöscht

Zur Erinnerung: Nach allem, was man weiß, ermordete die als NSU bekannt gewordene Gruppe zwischen 2000 und 2007 zehn Menschen, die große Mehrheit von ihnen türkischstämmige Männer, fast alle Kleinunternehmer. Ein Ermordeter war griechischer Herkunft, und die Polizistin Michèle Kiesewetter, die einzige Frau unter den Getöteten, gebürtige Deutsche.

Der Prozess gegen Beate ­Zschäpe, die letzte noch Lebende des mordenden Trios, ging 2018 nach fünf Jahren mit einem für die Angehörigen der Opfer niederschmetternden Urteil zur Ende. Zwar wurde ­Zschäpe zu lebenslanger Haft verurteilt; mit­angeklagte Helfershelfer aber kamen mit lächerlich geringen Strafen davon und waren gleich nach Prozessende wieder auf freiem Fuß.

Aysun Bademsoys Film enthält Szenen, die auf der Straße nach der Urteilsverkündung spielen. Die Eltern des ermordeten Halit Yozgat geben eine öffentliche Erklärung ab, mit der sie ihrer tiefen Enttäuschung über diesen Prozessausgang Luft machen. Danach, so erklärt die Regisseurin aus dem Off, hätten sie mit niemandem mehr sprechen wollen. Auch mit ihr nicht.

Aysun Bademsoy konzentriert sich in „Spuren“ auf ein paar exemplarische Einzelfälle (es ist verständlich, wenn viele der Hinterbliebenen wenig Lust haben, in einem Film aufzutreten). Die Familien Şimşek und Kubaşık sowie der jüngere Bruder des Hamburger Gemüsehändlers Süleyman Taşköprü stehen mit ihrer Trauer stellvertretend für alle anderen.

Einbruch in den Alltag

Bademsoy künstelt nicht herum mit ihrem Material, sondern dokumentiert sehr geradeheraus das, was wirklich da ist. Dazu gehört auch, dass die Situation des Filmens selbst als kleiner Einbruch in den Alltag des Lebens nebenbei mit gezeigt wird. Wenn Menschen, die mit ins Bild kommen, sich befangen vor der Kamera zeigen, ist das deutlich zu sehen. Wenn jemand nichts mehr zu sagen hat, wird die Pause im Gespräch nicht vorzeitig abgeschnitten.

„Spuren – Die Opfer des NSU“. Regie: Aysun Bademsoy. Deutschland 2019, 81 Min.

Wenn die Regisseurin selbst eine Frage an die Erzählenden hat, ist ihre Stimme aus dem Off zu hören. Diese Redlichkeit beim Dokumentieren dessen, was beim Filmen eben so passiert, bewirkt eine große Authentizität. Es ist kein stilisiertes Bild der Realität, das wir hier zu sehen bekommen, sondern es ist die Realität selbst, die durch die Morde auf immer schmerzhaft verändert worden ist.

Eine tatsächlich etwas tröstende Klammer schlägt Bademsoys Film am Ende aber doch noch – in die Türkei, wo sie Enver Şimşeks Witwe trifft. Adile Şimşek zeigt der Kamera zwei Bäume auf ihrem Grundstück: der eine, das sei Enver, der andere sie selbst. Aufrecht und stabil sehen die Bäume aus. In gewisser Weise leben die Toten nämlich weiter. So lange, wie jemand an sie denkt.

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