Ein M für Merve

Viele unterschiedliche Geschichten, die universalen Anspruch haben – aber keine finalen Wahrheiten: „Instant theory. Die M-Fotoserie des Merve Verlags“
in der NGBK in der Oranienstraße

Das M und Heidi Paris, Verlegerin, Schriftstellerin und Künstlerin

Von Peter Funken

Nicht interpretieren, ja, nicht interpretieren, sondern konstruieren, experimentieren, ja, ein offenes Ensemble oder ein Dispositiv, oder eine Anordnung verschiedener Ebenen.“ So charakterisierte Peter Gente seine Arbeit als Verleger in einem Interview mit der japanischen Blixa-Bargeld-Übersetzerin Tomoko Takemura.

Das Gespräch fand im Winter 2002, kurz nach dem Suizid von Gentes Partnerin Heidi Paris, statt. Heidi starb am 15. September mit 52 Jahren, es war ein wunderschöner Spätsommertag.

In seinem Nachruf schrieb Thomas Kapielski: „Kraftlos war sie nicht. Geradlinig, eigenwillig, manchmal spröde, immer auch rätselhaft. Dann wieder geläutert, licht und heiter. Sie hatte Anmut. Eine helle Seite. Drängende Neugier um diese verwunderliche Existenz, die uns alle fatal umfängt und die wir doch so einsam erleben, und ein Anhauch auch von Schwermut, und dass wir hienieden klarkommen müssen, das macht uns vermutlich zu Gläubigen oder Philosophen. Glaube: längst zerronnen. Die Philosophie: mehr Schönheit als Trost. Es hat am Ende nicht gelangt.“

In der Tat, Schönheit, Kunst und Musik, Film, Malerei und Design – das war ihr Ding, und natürlich Philosophie, Texte, Debatten, auch selber Bilder herstellen und gestalten: Heidi Paris entwarf den „Spaghetti-Stuhl“ und dazu eine Story in 50 Zeichnungen; und schließlich das Fotografieren. Heidi Paris’ Archiv zählt Tausende Negative und Abzüge, darunter eine Porträtserie, die M-Fotoserie, die jetzt in der „Instant theory“-Schau in der NGBK ausgestellt ist.

Das M und Merve Lowien, Mitgründerin des Merve Verlags Fotos: Merve Verlag

Sie entstand in den Verlagsräumen von Merve in der Crellestraße 22 in den Jahren 1980 bis 1990. Das Setting: FreundInnen und Gäste des Verlags werden in der Sitzecke neben einem Neonbuchstaben abgelichtet – ein M für Merve, M als Identitätssignal. Mehr als 80 Fotos umfasst diese Serie: Anfangs verwendete die Fotografin eine einfache Kodak-Instamatic, die quadratische, schwarz-weiße Bilder lieferte, später eine Kleinbildkamera, mit der Quer- und Hochformate in Schwarz-Weiß und in Farbe entstanden. Die Ausstellung zeigt die Porträtierten im Format 40 auf 40 Zentimeter oder 40 auf 60, stets sitzend, fast immer von vorne. Zu jedem Foto gehört ein biografischer Text, kurz und aktuell.

Die Ausstellung „Instant theory“, sagt Elisa Barth von der Projektgruppe der NGBK, will nicht die Geschichte des 1970 von Merve Lowien, Peter Gente und anderen gegründeten Verlags erzählen. Es geht vielmehr um einen Blick auf das Verlagsleben während der letzten Dekade in Westberlin, seine Bedeutung und Wirkung. Der eigenen Gegenwart zugewandt, im Approach postheroisch, wollen die fünf AusstellungsmacherInnen zeigen, wie Gente/Paris zusammen mit ihren Autoren, Freunden und Mitarbeitern seit den 1980er Jahren neben Politik und Philosophie zunehmend bildende Kunst, Design und experimentelle Musik samt ihren ästhetischen Theorien ins Zentrum der Verlagsarbeit rückten. Ganz wichtig dabei, wie sich aus einem Kollektiv, das sich zuerst sozialistisch nannte, mit der Zeit ein offenes Netzwerk wurde, ein Netzwerk vor den Netzwerken sozusagen – das Schlagwort dazu gaben die französischen Psychophilosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari: „Rhizome bilden.“

Kann noch immer Impulse geben

Es ist ein Verlagsprojekt, meint Elisa Barth, das noch immer Impulse geben kann, Modell und Vorbild für heutige Formen linker Politik und Praxis ist: Merve erscheint in dieser Perspektive als Verlag, der nicht nur mit seinen Büchern neues Denken initiierte und LeserInnen intellektuell involvierte, sondern als kreatives Konstrukt in der Crellestraße Möglichkeiten schuf, für eine andere, direkte und offene Kommunikation, „instant theory“.

Dass solches am besten in Freundschaften geschieht, darauf verweist die Ausstellung bereits eingangs mit einer Gruppe von Freundschaftsbildern. Tatsächlich waren Lesegruppen im Merve-Verlag mehr als nur intellektuelle Diskussionen, sie waren oft Vorspiel für ausgedehnte Feiern, die Menschen und ihre Möglichkeiten zusammenführten.

Das M und Nikolaus Utermöhlen von Die tödliche Doris

Auf diese kommunikativ-hedonistische Seite des Verlagslebens spielt in der Ausstellung ein die gesamte Rückwand füllendes Foto an, das die Verlagsetage nach einer Party zeigt – Papier, Kippen, Abfall auf dem Boden, auf den Tischen leere Flaschen und Gläser, die davon zeugen, dass es heftig und lustig zugegangen war.

Der Verlag hatte viele Gäste, und Heidi machte oft und gerne Fotos, von Freunden, Autoren, Künstlern und Mitarbeitern: Alles in einer Person verkörperte Thomas Kapielski, er hatte dem Paar das Neon-Signal M geschenkt, sodann wurden etliche Koryphäen der Zeit abgelichtet: John Cage, Jean Baudrillard, Martin Kippenberger, Heiner Müller und Blixa Bargeld. KünstlerInnen wie Miriam Cahn, Eva-Maria Schön (von ihr wird in der Ausstellung ein Video über Merve gezeigt), Käthe Kruse oder Nanaé Suzuki. Fotografiert wurden die Musiker Arnold Dryblatt, Hans Peter Kuhn und Werner Durand, ebenso die Philosophen und Theoretiker Walter Seitter, Hannes Böhringer, Wolfgang Max Faust, Michael Glasmeier, Johannes Gachnang oder Sylvère Lotringer. Die ÜbersetzerInnen Marianne Karbe, Birger Ollrogge (verschollen), Michaela Ott, Isolde Eckle oder Ronald Voullié (Gustav Rossler fehlt).

Die Ausstellung ist in Kapitel gegliedert: „Kollektiv“, „Übersetzungen“, „Serialität“, „Texte zur Kunst“, „Netzwerk“, „Sichtbarkeit“ und „Freundschaften“. Manche der Porträtierten scheinen ihrem jeweiligen Kapitel ein wenig willkürlich zugeordnet. Lustig, dass das erste Bild der Serie die Verlagskatze zeigt.

Das M und „Blue“ Gene Tyranny, Mimi Johnson, Robert Ashley

Kuratorin Elisa Barth arbeitete selbst lange bei Merve, sie kannte Peter Gente, der ab 2007 in Thailand lebte und dort 2014 starb, gut.

Um die Bedeutung und Wirkung von Merve bis in die Gegenwart auszuleuchten und um zeigen, was heute anders läuft und auf dem Spiel steht, findet ein Rahmenprogramm mit Talks und Screenings statt. Die Ausstellung will kein Mausoleum sein, vielmehr möchte „Instant theory“ als Gesamtprojekt aus Fotos, Filmen, Lektüren und Gesprächen Türen für die Zukunft öffnen.

Die Ausstellung argumentiert polymythisch, sie erzählt also viele unterschiedliche Geschichten, die universalen Anspruch haben, aber sie bringt keine finalen Wahrheiten hervor, sondern betont den Wert von vitaler Verwandlung: Ergebnis solcher Vermittlung ist Lebendigkeit, Energie und Freude und damit die Absage an alles Absolute und Totalitäre. Dies sind auch Merkmale in der Nachfolge von Merve Berlin – heute leitet Tom Lamberty den Verlag, seit 2017 mit Sitz in Leipzig.

„Instant theory“: NGBK, Oranienstr. 25, tgl. 12–18 Uhr, bis 9. April. Zur Ausstellung erscheint ein Begleitheft