Die Billigversion eines normalen Sommers

„Favolacce“ („Bad Tales“) der Brüder D’Innocenzo handelt von der Vorstadthölle Roms (Wettbewerb)

Sommer in der Peripherie von Rom. Abends sitzt man auf der Terrasse und lauscht zwischen Geprahle und Belanglosigkeiten in „Favolacce“ („Bad Tales“), dem Wettbewerbsbeitrag der Zwillingsbrüder Fabio und Damiano D’Innocenzo, dem Zirpen der Grillen. Bruno, einer der Reihenhausbewohner, pumpt in seinem Vorgarten ein Planschbecken auf: „Die Billigversion eines normalen Sommers“, so die Stimme aus dem Off. Sein Nachbar Pietro sticht das Becken kaputt. Wenig später sitzen die beiden beim Geburtstag von Pietros Tochter zusammen und lassen ihren Vergewaltigungsfantasien gegenüber einer der Mütter aus der Nachbarschaft freien Lauf. Eine der Töchter wiederum zeigt ihrem Freund den Browserverlauf im Rechner ihres Vaters – lauter Pornoseiten.

Die Eltern wenden alle Energie dafür auf, über alle Abgründe hinweg die Fassade aufrechtzuerhalten. Die Kinder verfolgen das Treiben der Erwachsenen misstrauisch und aus der Distanz – von einigen eher vorsichtigen Annäherungsversuchen abgesehen. Und das, obwohl Sommerferien sind – die Zeit für erste Verliebtheiten, für das erste Mal Sex – ein prekärer Freiraum, den die Erwachsenen unablässig einzuhegen versuchen. Die Kinder sollen sich in die feindliche Umgebung fügen, die Jungs männlicher, die Mädchen weiblicher werden.

Eine Ausnahme ist Vilma. Sie ist gerade erst erwachsen und schon schwanger und betreut betont gelangweilt den Miniflohmarkt vor dem Haus ihrer Mutter. Als einer der Schuljungen einen Metalldetektor kaufen möchte, fragt sie ihn teilnahmslos, ob er statt Wechselgeld Sex mit ihr haben will. Am nächsten Tag kippt sie einen Plastiksack Soße über die Pasta in der Schulkantine. Vilma ist die Einzige, die zumindest versucht, sich gegen die Tristesse der Vorstadt zu wehren. Die Kinder hingegen tun alles, um sich die Welt der Erwachsenen möglichst weit vom Hals zu halten. Scheitern werden sie letztlich alle.

Erst vorheriges Jahr gaben Fabio und Damiano D’Innocenzo ihr Spielfilmdebüt mit „La terra dell’abbastanza“ („Boys Cry“), der auf der Berlinale im Panorama lief. Geboren ebendort, in der Peripherie von Rom, haben sie keine formale Ausbildung durchlaufen, sondern das Handwerk bei der Arbeit erworben – als Drehbuchautoren und beim Dreh von Videoclips. Vor allem das ist eine oft übersehene Gemeinsamkeit vieler jüngerer Regisseur_innen des italienischen Kinos. Während die Brüder Manetti aber zum Beispiel explizit mit dem Glanz der Oberflächen spielen, nutzen die D’Innocenzos die Oberflächen, um die Abgründe dahinter umso sichtbarer zu machen. In „Favolacce“ wird dieses Manöver mit der Musik Egisto Macchis aus den 1970er Jahren unterlegt. Macchi, 1992 in Montpellier gestorben, hatte in seiner Musik mit Kontrasten verschiedener Klangelemente gearbeitet. Die Kamera wiederum führte wie schon beim Vorgängerfilm Paolo Carnera, der gut 30 Jahre älter ist als die D’Innocenzos und unter anderem die Bildgestaltung bei den letzten beiden Filmen Stefano Sollimas in den Händen hatte. „Favolacce“, das Märchen vom Ausbruch der Genervten, ist bislang einer der stärksten Filme im Wettbewerb. Fabian Tietke

26. 2., 10 Uhr, Haus der Berliner Festspiele; 26.­ 2., 12.15 Uhr, Friedrichstadtpalast; 28. 2., 21.20 Uhr, Friedrichstadtpalast