Netflix-Spielfilm „Lost Girls“: Mütter und Schwestern

Eine Mutter sucht ihre verschwundene Tochter. Unterstützung bekommt sie nur von anderen Frauen, die Frauen verloren haben.

Regisseurin Liz Garbus (Mitte oben) mit ihren Schauspielerinnen Foto: Taylor Jewell/ap

Welche Geschichte verfilmt eine altgediente Dokumentarfilmerin, wenn sie ihren ersten Spielfilm dreht? Natürlich eine wahre!

Liz Garbus ist eine der profiliertesten amerikanischen Autorinnen und Produzentinnen von Dokumentarfilmen, zugleich mehrfach Oscar-nominiert, die Stoffe der härteren Gangart nicht scheut: Haftanstalten und Schwerverbrecher – mit oder ohne Todesurteil – sind ein offensichtlicher Schwerpunkt ihres Interesses: „Ghosts of Abu Ghraib“; „The Farm: Angola, USA“ oder „The Execution of Wanda Jean“, heißen ihre Werke.

Ihr Spielfilmdebüt, im Januar auf dem Sundance Film Festival erstmals gezeigt und nun auf Netflix, würde keine romantische Komödie werden, das war klar. „Lost Girls“ handelt von verschwundenen Mädchen, vor allem von einem. Nein, die Mädchen sind ja verschwunden – eigentlich handelt der Film von ihren Müttern und Schwestern, die zurückgeblieben sind und damit umgehen müssen.

Die alleinerziehende Mari Gilbert (Amy Ryan) kann sich und ihre Töchter Sherre (Thomasin McKenzie) und Sarra nur mühsam mit Kellnerjobs über Wasser halten. Sie ist auf finanzielle Zuwendungen ihrer ältesten Tochter Shannan angewiesen. Dass die sich dafür prostituierte; dass Shannan nicht vom Staat weggenommen wurde, sondern dass Mutter Mari sie einst freiwillig in eine Pflegefamilie gab, erfahren Sherre und Sarra – und wir Zuschauer – erst nach und nach.

Antiheldin

Als Heldin taugt diese Mari nur in Gestalt der Antiheldin, die mit ihrer Aufgabe über sich hinauswächst. Die Aufgabe ist die Suche nach Shannan, die von dem Besuch eines Freiers in einer Gated Community (Motto: „Be nice or leave“) nicht zurückgekehrt ist – wie andere Mädchen vor ihr, allesamt Prostituierte aus der weißen Arbeiterklasse.

Für das, was man als Zuschauer in der Folge mitansehen muss, mit Mari miterleben muss, scheint die Kenntnis, dass es sich also um eine wahre Geschichte (nämlich die des „Long Island Serial Killers“) handelt, unerlässlich. Sonst könnte man kaum anders, als den Plot als hanebüchen, unglaubwürdig und mutwillig einseitig abzutun. Allein die beiden (nicht) ermittelnden Polizisten: der eine – auch in der Filmgeschichte – ein beispiellos ignoranter und inkompetenter Chauvinist; der andere ein müder alter Mann, der wohl besser könnte, sich aber widerstandslos dem Wunsch seiner Vorgesetzten beugt, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, nämlich ein Serienkiller in ihrem beschaulichen Ort.

Nein, Hilfe, Solidarität erfährt Mari nicht von ihnen, sondern nur von den Angehörigen der anderen verschwundenen Mädchen – deren Leichen, anders als die Shannans, bald gefunden werden. Lola Kirke, bekannt aus „Mozart in the Jungle“, gibt die Schwester eines der Mädchen, flamboyant auftretend, aber natürlich umso beschädigter. Was ist besser: Wissen oder Nichtwissen? Würde die Gewissheit über Shannans Tod Mari von ihrer Wut befreien?

Ein Zorn, der in Liz Garbus’ Film ein gerechter Zorn ist: „Man hört nur: ‚Er ist Bulle.‘ ‚Er ist Fischer.‘ Immer nur: ‚Er, er, er.‘ Und unsere Mädchen? Wer redet von denen? Und wenn sie es tun, sagen sie: ‚Prostituierte, Hure, Sexarbeiterin, Callgirl.‘ Nie: ‚Freundin, Schwester, Mutter, Tochter.‘ Denen ist das egal. Sie geben ihnen die Schuld. Und es ist unsere Aufgabe, als Mütter und Schwestern, dafür zu sorgen, dass sie nicht vergessen werden.“

Tatsächlich gibt es in den Familien der ermordeten Mädchen offenbar nur Frauen: Mütter und Schwestern, keine Väter, keine Brüder, nicht einen einzigen. Oder interessieren sich Letztere einfach nur nicht für ihre toten Töchter und Schwestern? Warum? Weil sie eben Männer sind? Ebenso ignorant wie die ermittelnden – männlichen – Polizisten?

Gewiss, die Mordopfer waren Frauen und ihr Mörder (bestimmt) ein Mann. Und grundsätzlich ist überhaupt nichts dagegen einzuwenden, wenn Liz Garbus einer dezidiert feministischen Agenda folgt, den Zeitgeist auf ihrer Seite wissend: #MeToo, Time’s Up – Weinstein, Polanski und Co.

Aber allzu leicht gerät ein Film, ein Spielfilm zumal, wenn er sich seiner moralisch überlegenen Haltung ein bisschen zu sicher ist, zum wohlfeilen Machwerk.

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