Evaluierung bisher leider unerwünscht

Niemand weiß, welchen Effekt die zur Coronabekämpfung ergriffenen Maßnahmen tatsächlich haben. Eine wissenschaftliche Begleitforschung aber lehnen Gesundheitsministerium und Forschungsministerium ab

Und immer noch urbane Leere am Berliner Alexanderplatz, diesmal aber mit Polizei... Foto: Michael Kappeler/dpa

Von Heike Haarhoff

Schulschließungen und Ausgangsbeschränkungen, Kontakt- und Arbeitsverbote: Es sind drastische Maßnahmen, mit denen die Bundesregierung im Kampf gegen die Coronapandemie die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger derzeit einschränkt. Aber welche Wirkungen, positiv wie negativ, haben diese sogenannten nichtpharmakologischen Interventionen tatsächlich? Die Regierung weiß es nicht – und will es offenbar nicht wissen.

Eine begleitende wissenschaftliche Forschung, die die Effektivität der Maßnahmen evaluieren und ins Verhältnis zu ihren unerwünschten sozialen, wirtschaftlichen oder psychischen Nebenwirkungen setzen könnte, ist bisher jedenfalls nicht vorgesehen. Das ergaben Anfragen der taz beim Bundesgesundheitsministerium (BMG) und beim Bundesforschungsministerium (BMBF).

„Eine Evaluierung der Effekte dieser Maßnahmen“, teilt ein Sprecher des BMG der taz mit, „kann aufgrund der Kürze der Einschränkungen noch nicht stattfinden.“ Auch auf absehbare Zeit wird es sie wohl nicht geben: „Das BMBF hat keine Studien beauftragt“, erklärt eine Sprecherin lapidar. Nur aus China lägen „vorläufige Ergebnisse solcher Studien“ vor. Jedoch: „Gegenwärtig ist unklar, ob diese auf die deutsche oder europäische Situation übertragbar sind. Belastbare Erkenntnisse aus Deutschland oder Europa liegen dem BMBF nicht vor.“ Und kurzfristig, so die Sprecherin, werde sich daran auch nichts ändern: „Es wurde keine Begleitforschung beauftragt.“

Immerhin, räumt das BMBF ein, könnten sich interessierte Forscherinnen und Forscher aus eigener Ini­tia­ti­ve an einem jüngst gestarteten Förderaufruf des Ministeriums zur Erforschung von Covid-19 beteiligen; eine Projektförderung auch zu epidemiologischen Fragestellungen und zu ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten „im Zusammenhang mit dem Ausbruchsgeschehen“ sei über einen Zeitraum von 18 Monaten möglich. Die Ausschreibungsfrist hierzu endet am 11. Mai. Danach werde über die Vergabe der Mittel entschieden. Wer jemals an einer deutschen Universität mit öffentlichen Mitteln geforscht und den bürokratischen Bewilligungsdschungel durchlitten hat, weiß: Vor dem Herbst geht da gar nichts los.

Wie kann das sein? Auf welcher Grundlage werden Millionen Kinder vom Schulunterricht ausgeschlossen, werden weitere Millionen arbeitende Menschen ins Homeoffice verbannt oder in die Arbeitslosigkeit geschickt, wenn diese Maßnahmen – zeitnah ihre Durchführung begleitend– nicht auch wissenschaftlich überprüft und hinterfragt werden?

Der Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel (SPD) immerhin wagte am Mittwoch sanfte Kritik an der vermeintlichen Alternativlosigkeit der bislang ergriffenen Maßnahmen: „Ich bin überzeugt, es ist höchste Zeit, einmal innezuhalten, um darüber nachzudenken, ob wir wirklich auf dem richtigen Weg sind“, schrieb er in einem Gastbeitrag für die Rheinische Post. Geholfen sei niemandem, wenn ein ganzes Land auf unabsehbare Zeit in Quarantäne genommen werde.

„Wir brauchen die Daten bald“, mahnt auch der Bioethiker und Vizedirektor des Quest Center am Berlin Institute of Health, Daniel Strech. Es sei „wichtig, auch den möglichen Schaden zu untersuchen: Wie viele pflegebedürftige, alte Menschen leben nun isoliert in Pflegeheimen ohne Begleitung ihrer Angehörigen oder in der Häuslichkeit ohne Fürsorge einer ausländischen Betreuungskraft? Wie viele Menschen erleiden gesundheitlichen Schaden, weil sie nicht operiert werden? Wie ist das Familienleben beeinträchtigt? Wie viele Unternehmerinnen oder Unternehmer verzweifeln an ihrer Insolvenz? Hierzu benötigen wir medizinische und sozialwissenschaftliche Begleitforschung“, so Strech. Doch danach sieht es nicht aus.

Auch Coronascreenings, auf die unter anderem der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach bereits seit Wochen drängt, finden in Deutschland immer noch nicht statt. Gemeint ist eine Testung von verschiedenen Kohorten bisher nicht auf das Virus getesteter Personen, womit herausgefunden werden könnte, wie weit das Virus bereits in der Bevölkerung verbreitet ist.

„Man wüsste dann, ob Social ­Distancing überhaupt den gewünschten Effekt erzielen kann“, sagt der Bioethiker Strech. Und man könnte Antworten auf die Fragen geben, die sich auch in China stellen: Gibt es dort kaum noch neue Diagnosen, also Fälle von Infektionen, wegen der effektiven nichtpharmakologischen Interventionen? Oder vielleicht deshalb, weil bereits die Mehrheit der Bevölkerung infiziert ist, aber keine Symptome zeigt?

Der Chefvirologe der Berliner Charité, Christian Drosten, der auch die Regierung berät, widersprach am Donnerstag dem Eindruck der Untätigkeit. Die Planungen, solche Kohorten aufzubauen, liefen „fieberhaft“ und in ganz Deutschland; allerdings brauche ihre Organisation „ein paar Wochen Vorlauf“. Andernfalls generiere man „nur anekdotische Daten“, warnte Drosten. Auch warte man auf sogenannte Antikörpertests, die aufgrund ihrer höheren Sensitivität zu Kohortenstudien besser geeignet seien als die zurzeit vor allem verfügbaren Rachenabstrichtests. Aber dann werde es ganz sicher losgehen. „In der Zeit nach Ostern“, versprach Drosten, dürfe mit vielen Daten gerechnet werden; auch zur Verbreitung des Virus unter Krankenhausbeschäftigten sollten Forschungsergebnisse vorgelegt werden, federführend sei hier die Universität Köln.

„Es ist wichtig, den möglichen Schaden zu untersuchen“

Daniel Strech, Berlin Institute of Health

Der Opposition im Bundestag allerdings geht das nicht weit genug. Bevölkerungsstichproben seien unverzichtbar, und wenn vorhandene Tests nicht schnell oder nicht genau genug seien, dann müsse sich dies „zügig“ ändern, sagte die pflegepolitische Sprecherin der Grünen, Kordula Schulz-Asche.

„Mehr Forschung ist notwendig, um weiterhin vernünftige politische Entscheidungen in einer Pandemie treffen zu können“, erklärte auch die Obfrau der Grünen im Gesundheitsausschuss, Kirsten Kappert-Gonther.

Der gesundheitspolitische Sprecher der Linken, Achim Kessler, forderte in diesem Zusammenhang ein „unabhängiges Sachverständigengremium“, das die Maßnahmen „auf Grundlage unabhängiger wissenschaftlicher Einschätzungen“ beurteilen solle.

Christine Aschenberg-Dugnus, Gesundheitsexpertin der FDP-Fraktion, mahnte, es gelte herauszufinden, ob die sich für Deutschland abzeichnende, sich etwas abflachende Kurve der Infizierten „auf die Disziplin jedes Einzelnen oder auf die befristeten Einschränkungen von Bürgerrechten zurückzuführen ist“.

AfD-Gesundheitspolitiker Detlev Spangenberg plädierte, auch die Nachteile ergriffener Maßnahmen im Bereich Wirtschaft und Bildung sowie Psychologie zu untersuchen.