Weißrusslands Umgang mit Corona: Väterchen droht und lässt feiern

Der Preis für den zynischen Umgang von Weißrusslands Staatschef Lukaschenko mit Corona könnte furchtbar werden. Seine Priorität: die Präsidentenwahl.

Fussballfans stehen dich beieinader und jubeln

27. März 2020, Fans jubeln bei einer Fußballmeisterschaft in Zhodino, Weißrussland Foto: Sergei Grits/ap/dpa

Soviel Freiheit war nie in Weißrussland. Während die Welt unter der Corona-Pandemie ächzt und auf unabsehbare Zeit in den Krisenmodus geschaltet hat, heißt das Motto in dem Zehn-Millionen-Einwohner-Staat: Business as usual und bloß keine Panik, alles halb so schlimm. Dauerherrscher Alexander Lukaschenko – bereits mehr als ein Vierteljahrhundert im Amt – tut gerade so, als würde das Virus ausgerechnet um sein Reich einen großen Bogen machen.

Der ehemalige Kolchos-Chef von etwas schlichtem Gemüt, der gerne als letzter Diktator Europas gescholten wird, oppositionelle Stimmen zum Schweigen bringen und immer noch die Todesstrafe vollstrecken lässt, hat vor allem in Zeiten wie diesen seine ganz persönliche Sicht auf die Dinge. So rollt der Fußball in weißrussischen Stadien – vor gut gefüllten Publikumsrängen versteht sich. Der Herrscher selbst gibt sein Können auf Schlittschuhen und am Puck zu besten. Gearbeitet wird weitgehend normal. Eine Verlängerung der Schulferien bis Mitte April kam erst auf Druck von Eltern zustande, die sich weigerten ihre Kinder in die Lehranstalten zu schicken.

Um Corona dennoch in Schach zu halten, was für Lukaschenko offensichtlich kein Widerspruch ist, gibt er seinen Landsleuten gleichzeitig „wertvolle“ Ratschläge an die Hand: Viel Feldarbeit an frischer Luft, regelmässige Nahrungsaufnahme, Saunagänge und ab und an ein Wässerchen. Überhaupt habe man es derzeit mit einer veritablen Psychose zu tun, wird er nicht müde zu betonen und zieht über die Nachbarstaaten her, die ihre Grenzen zu Weißrussland geschlossen haben.

Besonders gerne arbeitet sich Lukaschenko an Russlands Staatpräsidenten Wladimir Putin ab. Der versuchte seinen Untertanen bereits in der vergangenen Woche den Ernst der Lage in einer Fernsehansprache nahezubringen, verordnete Zwangsurlaub bis Ende April sowie Quarantäne und Selbstisolation, deren Nichtbeachtung auch ins Gefängnis führen kann.

Doch das Verhalten Lukaschenkos zu belächeln und als Marotte eines aus der Zeit gefallenen, realitätsentrückten Staatschefs abzutun, greift zu kurz. Vielmehr haben wir es hier mit der Wiederauferstehung des Homo sovieticus zu tun – jener seltsamen Spezies eines neuen Menschen, der jetzt – wieder einmal – sein hässliches Gesicht zeigt.

In diesem Kontext lohnt ein Blick zurück. Wir schreiben das Jahr 1986 – genauer gesagt den 26. April. Im vierten Block des ukrainischen Atomkraftwerks Tschernobyl kommt es zu einer schweren Explosion – das Ergebnis eines kühnen Experiments. Doch anstatt die Bevölkerung ins Bild zu setzen, übt sich die sowjetische Staatsführung in größtmöglicher Geheimhaltung und verschleiert so zunächst das wahre Ausmaß der Katastrophe. Es braucht mehrere Tage, bis die Menschen aus den verstrahlten Gebieten evakuiert werden. In Kiew marschieren Tausende Fähnchen schwenkend und ein verordnetes Lächeln auf den Lippen bei der Siegesparade am 9. Mai im Zentrum von Kiew auf – so, als sei rein gar nichts geschehen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 macht sich Moskau einen schlanken Fuß und überlässt es den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, allen voran Weißrussland und der Ukraine, mit den Folgen des Atomunfalls fertig zu werden.

Alexander Lukaschenko

„Ich will nicht, dass mein Staat zu einem Teil dieser sogenannten zivilisierten Welt wird“

Auch heute gibt es keine verlässlichen Zahlen darüber, wie viele Menschen dem GAU tatsächlich zum Opfer gefallen sind. So manche(r), der schwer erkrankt ist, kämpft immer noch um eine Anerkennung und den lächerlich kleinen finanziellen Obulus, der damit verbunden ist.

Jenseits allen menschlichen Leids und persönlicher Tragödien hat sich den Menschen in der ehemaligen Sowjetunion jedoch eine Erkenntnis ins kollektive historische Gedächtnis tief eingebrannt: 1986 und in den Jahren danach belogen und bewusst im Unklaren gelassen worden zu sein.

Genau dieser zynische und menschenverachtende Umgang mit einer Ausnahmesituation ist auch jetzt wieder in Weißrussland zu besichtigen – einem Land, wo auch in normalen Zeiten ein Leben so gut wie nichts zählt.

Derzeit ist von 1981 Corona-Infizierten die Rede, angeblich gibt es bislang „nur“ 19 Tote zu beklagen. Kritische Geister haben an diesen Angaben so ihre Zweifel – und das zu Recht. Genaue Statistiken des Gesundheitsministeriums, die nach Städten und Regionen aufgeschlüsselt wären, gibt es nicht.

Der Geheimdienst KGB läuft, auf Anordnung von Lukaschenko, zu Hochform auf. Nicht nur ÄrztInnen, die für das Regime unangenehme Wahrheiten öffentlich machen könnten, werden bedroht, sondern auch Erkrankte und Angehörige von jüngst in Krankenhäusern Verstorbenen. Eine NGO hat mehrere solcher Fälle dokumentiert.

Massivem Druck sehen sich auch BloggerInnen ausgesetzt, die kritische Fragen stellen: Einschüchterungen, Festnahmen und Verurteilungen zu Arreststrafen sind an der Tagesordnung, wobei der Vorwurf stets „Verbreitung von Falschmeldungen“ lautet. Ende Februar wurde Sergej Sazuk, Chefredakteur der Onlinepublikation Tagesjournal in Minsk festgenommen. Kurz zuvor hatte er einen Beitrag veröffentlicht, in dem er die offiziellen Zahlen infrage gestellt und von Bedrohungen seiner Person durch korrupte Mitarbeiter des Gesundheitsministerium berichtet hatte. Wegen Bestechung könnte er zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt werden.

So sieht es also aus, das große Krisenmanagment von Alexander Lukaschenko. Er scheint allen Ernstes zu glauben, die Mehrheit seiner Landsleute würde ihm noch abkaufen, alles im Griff zu haben und zugleich noch das Corona-Virus in die Schranken weisen zu können. Aber warum sollte ihn auch gerade jetzt das Schicksal der Bevölkerung umtreiben, warum sollte er gerade jetzt plötzlich auf ein paar menschliche Kollateralschäden Rücksicht nehmen?

Es gibt für ihn andere Prioritäten. Derzeit trainieren in Minsk tausende Soldaten für die Feierlichkeiten am 9. Mai aus Anlass des Kriegsendes vor 75 Jahren. Und dann kommt ja auch noch die Präsidentenwahl im August, bei der Lukaschenko – wer hätte es gedacht, – noch einmal antreten will. Die Veranstaltung wäre entbehrlich, da das Ergebnis ohnehin schon vorher fest steht.

Besonders dieser Tage dürfte den Menschen in Weißrussland ein Satz ihres „Väterchens“ in den Sinn kommen. „Ich will nicht, dass mein Staat zu einem Teil dieser sogenannten zivilisierten Welt wird“, gab Lukaschenko vor einigen Jahren einmal zu Protokoll. Vielleicht wird es ihm das auch dieses Mal gelingen, das zu verhindern, doch der Preis dafür könnte furchtbar sein. Entrichten werden ihn die WeißrussInnen.

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Geboren 1964, ist seit 1995 Osteuropa-Redakteurin der taz und seit 2011 eine der beiden Chefs der Auslandsredaktion. Sie hat Slawistik und Politikwissenschaft in Hamburg, Paris und St. Petersburg sowie Medien und interkulturelle Kommunikation in Frankfurt/Oder und Sofia studiert. Sie schreibt hin und wieder für das Journal von amnesty international. Bislang meidet sie Facebook und Twitter und weiß auch warum.

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