Regisseur Edgar Reitz über Corona-Krise: „Abschottung gibt es nicht“

In der Pandemie lebt die Menschheit zum ersten Mal wirklich global, sagt Filmemacher Edgar Reitz. Er erhält den Ehrenpreis des Deutschen Filmpreises.

Porträtaufnahme des Filmemachers Edgar Reitz.

„Das Kino ist in einer Krise, wie es sie noch nie gegeben hat“, sagt Edgar Reitz. Foto: Christoph Hellhake/Edgar Reitz Filmproduktion

Bei der 70. Verleihung des Deutschen Filmpreises, die die ARD am Abend des 24. April live und ohne Gäste im Ersten überträgt, wird der Regisseur Edgar Reitz mit dem „Ehrenpreis für herausragende Verdienste um den Deutschen Film“ ausgezeichnet.

taz: Herr Reitz, Sie haben Ihre Filmreihe „Heimat“ nicht in einen klassischen Handlungsbogen gesetzt. Wie stehen Sie heute zum Regeldrama, also zur Drei-Akt-Erzählung nach Aristoteles?

Edgar Reitz: Dass ich vor über 30 Jahren damit angefangen habe, anders zu erzählen, liegt daran, dass mir die übliche, auf das Ende hin konzipierte, pointierte Erzählform nie eingeleuchtet hat. Ich sah, dass das Leben anders ist. Einer meiner Lieblingssprüche dazu stammt von Karl Valentin: Solange ich lebe, muss ich damit rechnen, dass ich weiterlebe. Der versteht mehr vom Leben als die Dramaturgen und Dramatiker, die alles auf Spannungsdramaturgie trimmen! Darum habe ich mich damals von der epischen Form in der Literatur leiten lassen – da geht es nicht um die Frage, wie die Geschichte ausgeht, sondern um das Gespür für die Si­tua­tion, die Verhältnisse, die Gefühle und Hoffnungen, die man hat. Keiner von uns kennt die Stunde seines Todes. Nach wie vor finde ich, dass das der richtige Weg ist. Heute, wo Serienerzählungen modern geworden sind, wird auch dort wieder nur mit Cliffhangern und Dramatisierungen gearbeitet. Damit untergräbt man die erzählerische Kraft, die in diesem Genre steckt.

Dabei ähneln gerade die langen Handlungsbögen der seriellen Erzählung Ihrer Erzählweise.

Das stimmt, die Stoffmenge spielt eine entscheidende Rolle. Darum gehen Verfilmungen großer Romane fast immer schief. „Krieg und Frieden“ zum Beispiel – wurde mehrmals verfilmt, und dabei immer wieder vergewaltigt, denn was an epischer Gewalt im Roman steckt, das wird durch so eine Dramatisierung zerstört. Wir sollten nicht vergessen, dass die heutigen Genres und Längen nur durch den Markt entstanden sind: Das Kinoprogramm gibt durch eine bestimmte Struktur vor, dass ein Film anderthalb bis zwei Stunden dauern darf. Weltweit hat sich darum eine Industrie gebildet, die Stoffe auf dieses Format trimmt. Aber das klassische Kino mit 20- und 22.30-Uhr-Vorstellungen wird es nicht mehr lange geben, nach Corona erst recht nicht. Das Kino ist in einer Krise, wie es sie noch nie gegeben hat. Was danach übrig bleibt, hat nur mit einem neuen Konzept eine Chance. Doch es ist ja schon etwas im Gange!

Was denn?

Es gibt immer mehr Festivals, dadurch entsteht eine neue Programmstruktur in kleineren Städten, es treten mehr Künstler in den Kinos auf. Denn dass der Mensch ein soziales Wesen ist, daran ändert Corona nichts. Man kann ihm nicht abgewöhnen, sich zu versammeln, um Dinge in körperlicher, realer Gemeinschaft zu erleben.

Momentan halten sich die meisten in Deutschland an die Social-Distancing-Regeln – ist das ein Zeichen für Vernunft oder auch für Unterwürfigkeit?

Das ist ein Zeichen für Angst. Die Menschen haben eine Sehnsucht danach, dass ihnen jemand sagt, was sie tun sollen. Ganz offensichtlich gibt es auch unabhängig von der Pandemie ein Gefühl der Unsicherheit in der Gesellschaft.

Durch die Pandemie verändert sich gerade sehr viel – auch der Heimatbegriff?

Seit einigen Jahren beobachte ich, dass der Heimatbegriff zunehmend in der Diskussion ist. Es gibt keine Uni, keine Kirche, keine Betriebsfeier mehr ohne das Thema. Dazu mischen sich die neuen Rechten ein und versuchen, es sich unter den Nagel zu reißen. Das Bedürfnis, in einer übersichtlichen, geschützten Welt zu leben, nostalgisch zu denken, der idyllische Regionalismus – das ist eine Tendenz. Ich glaube nicht, dass das durch die Pandemie beflügelt wird, im Gegenteil – die Menschheit lebt gerade zum ersten Mal wirklich global. Dass etwas überall auf der Welt stattfindet, jeden Menschen auf dem Globus trifft – das ist etwas vollkommen Neues. Wir begreifen mehr und mehr, dass es eine Abschottung nicht gibt, man kann nicht zumachen und sagen: Bei uns nicht.

Edgar Reitz wurde 1932 in Morbach im Huns­rück geboren. Er gründete mit Alexander Kluge das Institut für Filmgestaltung und beteiligte sich 1962 am Oberhausener Manifest, das den Autorenfilm propagierte. Neben vielen weiteren Dokumentar- und Spielfilmen ist sein Haupt­werk die von 1984 bis 2013 gedrehte, fast 60 Stunden um­fassende Filmreihe „Heimat“, die zwischen 1919 und 1990 in einer fiktiven Gemeinde im Hunsrück spielt. Reitz wurden zahlreiche Preise verliehen, 2019 eröffnete in Reitz’ Heimatdorf ihm zu Ehren das „kleinste Kino in Rheinland-Pfalz“.

Inwiefern ändern sich auch die Filminhalte, die Menschen anschauen?

Meine Generation hat immer darüber nachgedacht, wie lebensnah ein Film ist. Spiegelt man sich darin? Wie sehr gelingt dem Film, das Lebensgefühl, das man hat, wiederzugeben? Das ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um die Herzen der Menschen zu erreichen.

Zahlenmäßig am erfolgreichsten sind aber Filme, die nichts mit dem eigenen Lebensgefühl zu tun haben – eskapistische Blockbuster, die in anderen Welten spielen.

Was heutzutage im Leben eskapistisch ist, und wieso – das müsste man mal herausfinden, es ist schwer, den Menschen in die Köpfe zu schauen.

Was wird später von der aktuellen Situation bleiben?

Es wird viele Nachwirkungen geben, sowohl in politischer als auch in wirtschaftlicher und künstlerischer Hinsicht. Vor allem aber im Verhältnis zur Natur: Alles, was wir bislang über die Ursachen der Pandemie wissen, ist, dass das Gleichgewicht der Natur gestört ist. In normalen evolutionären Zuständen bleibt so etwas innerhalb eines vitalen Zusammenhangs, etwa im Tierreich oder in bestimmten Regionen. Aber in einer vollglobalisierten, auf weltweiten Handel aufgebauten Welt gibt es diese Begrenzungen nicht mehr, genauso wenig wie das respektvolle Distanzverhältnis zur Natur. Wir sind in einen Taumel der Naturbeherrschung verfallen. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Destabilisierung der Natur, dem Verschwinden der Artenvielfalt, der Klimaveränderungen und den Pandemien.

Was muss aus dieser Erkenntnis folgen?

Dass wir unseren Lebensstil ändern müssen. Diese grenzenlose Mobilität, der Umgang mit den Ressourcen, dass wir immer alles auf unserem Frühstückstisch haben wollen – das wird auf Dauer nicht mehr gehen. Die große Frage ist, ob wir den Fehler machen werden, all das wieder zu vergessen, wenn es zum Normalmodus zurückgeht.

Vielleicht kommt es drauf an, wie sehr wir traumatisiert sind?

Ja, nach dem Zweiten Weltkrieg sind zum Beispiel mindestens 20 Jahre vergangen, in denen keiner drüber reden wollte, alles wurde unter den Teppich gekehrt. So ist der Mensch: Wenn er etwas durchgemacht hat, will er es möglichst schnell vergessen.

In „Heimat“ haben Sie fast ein ganzes Jahrhundert porträtiert, angefangen mit dem Ersten Weltkrieg als erste moderne Zäsur. Wäre der aktuelle Lockdown als Zäsur für eine Serie denkbar?

Vielleicht. Aber historische Ereignisse, die uns tief im Gedächtnis bleiben, werden eben erst im Nachhinein künstlerisch verarbeitet. Deswegen glaube ich, dass es zwar eine Menge dokumentarisches Material über die aktuelle Situation geben wird, aber die großen Filme, der große Stoff darüber kommt erst später.

Wie lernen Sie die Figuren kennen, die Sie porträtieren?

Am besten ist es, etwas persönlich erlebt zu haben. Das ist ein Problem, das ich schon lange in Bezug auf die Zeitgeschichte beobachte. Zum Beispiel der Zweite Weltkrieg: Es ist eine Generation Filmemacher herangewachsen, die ihn nicht erlebt hat. Trotzdem ist das Thema noch wach. Wenn Christian Schwochow, den ich sehr schätze, „Deutschstunde“ verfilmt, spielt das in einer Zeit, die er nicht persönlich erlebt haben kann. Obwohl er ein profunder Filmemacher ist, fehlt der Filmerzählung aus diesem Grund das Geheimnis des inneren Verstehens.

Kann man dann als Mann überhaupt Frauenfiguren schreiben, wenn man nie als Frau durch die Welt gegangen ist?

Oh ja. Der Unterschied zwischen Frauen und Männern wird kulturell hochgespielt. Viele Frauenfiguren in meinen Filmen sind insgeheim Porträts von Männern, die habe ich sozusagen einer Geschlechtsumwandlung unterzogen, weil ich erzählen wollte: Das ist ein Mensch, egal ob Frau oder Mann. Diese Frauenfiguren würde eine Regisseurin auch nicht anders erzählen. Die Tiefendimensionen einer Figur fallen einem nie einfach so zu, die muss man sich immer durch Selbsterkundung erschließen. Auf jeden Fall ist man hinterher kein Macho mehr, falls man vorher einer war.

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