Ein letztes Bandentreffen

Raus aus dem Ghetto, rein in die weite Welt: In „Die Hosen der Toten“ verfolgt Irvine Welsh seine Underdog-Helden aus „Trainspotting“ weiter

Von Frank Schäfer

Irvine Welshs Bücher über die „Leith Boys“ Renton, Sick Boy, Spud und Franco erinnern stets an ein wild hin und her mäanderndes, lautstark zotiges, schier ausuferndes Kneipengespräch. In „Trainspotting“ hat er sich erstmals jener kleinkriminellen Gang aus dem ehemaligen Armen- und Drogenviertel Edinburghs gewidmet, der „Aids-Schleuder Europas“, und die erzählerische Struktur hat sich in den folgenden Romanen „Porno“ und „Skagboys“ nicht verändert. Auch im vierten und vielleicht letzten Teil „Die Hosen der Toten“ kommt mal wieder jeder an die Reihe und darf seine Geschichte erzählen.

Jeder auf seine Weise, aber alle in einem schottischen Ghetto-Slang – mit sprechsprachlichen Verschleifungen und in einer Art phonetischen Schreibung, die sich nicht eins zu eins in eine andere Sprache übertragen lässt. Alle bisherigen Übersetzer haben sich vor einer wirklichen Nachdichtung gedrückt. Wir lesen auf Deutsch immer bloß eine deutlich begradigte, harmonisierte Textvariante, die dennoch einen ziemlichen Sog entwickeln kann.

Viel komisches Potenzial

Sick Boy zum Beispiel, der sexbesessene Herzensbrecher, der sein Hobby zum Beruf gemacht hat und mittlerweile in London einen gutgehenden Escort-Service leitet, gefällt sich in einer durchsexualisierten Muchomacho-Sprache, die viel komisches Potenzial besitzt und gut zu seinen reichlich angeschmuddelten Anekdoten passt.

Auch Spud, der heruntergekommene Einfaltspinsel, der sich mit Betteln und Gelegenheitsdiebstählen über Wasser hält und sein bisschen Verstand durch jahrelangen Drogenabusus weiter durchlöchert hat, spricht ein ganz eigenständiges infantiles Kaputtnick-Idiom.

Schwerer zu unterscheiden sind die beiden in Hassliebe aneinandergeketteten Erzfreunde Mark Renton und Franco Begbie. Renton ist der Intellektuelle der Bande. Er jettet nun als Manager beziehungsweise „Kindermädchen“ für Techno-DJs um den Globus und verdient nicht schlecht dabei.

Vor Jahren, in „Porno“, hat er seine Freunde um viel Geld geprellt, das er ihnen jetzt zurückzahlen will. Inflationsbereinigt, versteht sich. Er ängstigt sich zuallererst vor Franco, dem es schon immer Spaß gemacht hat, anderen Menschen wehzutun. Aber der seelenlose Psychopath von einst hat sich mittlerweile eine einträgliche Karriere als bildender Künstler aufgebaut und hat seinen Jähzorn unter Kontrolle. Die Kunst sorgt für Sublimation, und die Kleinfamilie in Kalifornien hält ihn im Gleichgewicht.

So sieht es jedenfalls zunächst aus. Aber dann treffen diese durchgeknallten Kindsköpfe wieder aufeinander, und wie in den Büchern zuvor wird dadurch eine Kettenreaktion in Gang gesetzt, die für viel Ärger sorgt und mit Recht und Gesetz absolut unvereinbar ist.

Es geht um eheliche Untreue, Drogenschmuggel, Organhandel, Erpressung, schließlich sogar um Mord – und wieder einmal auch um Freundschaftsverrat. Alle haben sich irgendwie arrangiert mit dem Kapitalismus, sie sind zumindest in Geschäftsdingen erwachsen geworden. Nur Spud, der Totalverlierer, „hat sich nicht korrumpieren lassen“.

Für ihn nimmt es kein gutes Ende. Das ist bei aller aufgedrehten szenischen Komik und Slapstickhaftigkeit, die ein bisschen zu offensiv mit der späteren Verfilmung kokettiert, der zutiefst pessimistische und kapitalismuskritische Ernstkern des Buches. Wer sich dem System nicht anpasst, bleibt auf der Strecke.

Wie in einem Bond-Film

Ging es Welsh mit seinem multiperspektivischen, auf diverse Ichs verteilten Erzählpanorama bei „Trainspotting“ noch vor allem darum, ein bestimmtes subkulturelles Milieu Edinburghs umfassend auszuleuchten, sind seine Helden in der Zwischenzeit Weltbürger. Alle außer Spud, der gerade wegen seiner Immobilität ein besonders leichtes Ziel abgibt.

Santa Barbara, Amsterdam, Barcelona, Los Angeles, Berlin, London heißen die Schauplätze, und zwischendurch immer wieder Leith. Man kommt sich manchmal vor wie in einem Bond-Film, nur ohne den Exotismus. Denn mittlerweile sieht alles irgendwie gleich aus. „Überall gibt’s aufgetakelte alte Pubs, coole Cafés, internationale Restaurants jeder Art, überteuerte Immobilien, die wie falsche Zähne in den Lücken zwischen den alten Mietskasernen sitzen.“ Bisweilen liest es sich fast so, als würden die vier sich ihr altes Leith-Ghetto zurückwünschen.

Irvine Welsh: „Die Hosen der Toten“. Aus dem schottischen Englisch von Stephan Glietsch. Heyne, München 2020, 474 Seiten, 22 Euro