Alle, die ich liebe oder lieben muss

Entsagung, Innerlichkeit, Stuttgart: Anna Katharina Hahns spätromantischer Roman „Aus und davon“

Anna ­Katharina Hahn: „Aus und davon“. Suhrkamp, Berlin 2020, 308 Seiten, 24 Euro

Von Stephan Wackwitz

Mit ihrem neuen Buch „Aus und davon“ setzt Anna Katharina Hahn ein Projekt fort, das sie 2009 mit „Kürzere Tage“ begonnen hat: das feinmalerische Panoramaporträt bildungsbeflissener Stuttgarter Kleinbürgermilieus. Ihr Zugriff ist geprägt von einem mit beträchtlicher Virtuosität durchgehaltenen Naturalismus, der sich von den ästhetischen Utopien der schon kanonischen Stuttgart-Romane Hermann Lenz’und Manfred Essers programmatisch fernhält. Lenz’­Eugen-Rapp-Romane restaurierten zwischen Killesberg und Hoppenlau­fried­hof eine kulturreligiös hoch aufgeladene Stoa. In Essers „Ostend-Roman“ wurde die literarische Avantgarde und ihr Anspruch auf Befreiung der Sinne und Erkentnismöglichkeiten in ein (heute längst durchgentrifiziertes) Stuttgarter Arbeiterviertel projiziert.

Hahn ist, zumindest vordergründig, bescheidener. Das Pathos ihrer Beschreibungskunst prägt eine Art Andacht zum Unbedeutenden. Zum „Kutter­eimer“ wie die Mülltonne auf Schwäbisch heißt, zum ­„Olgäle“, wie das Olga­kran­ken­haus dort mit morbider Vertraulichkeit genannt wird, zum genau herausgehörten ­Elftklässlerinnen­slang („Chill dich mal, Omi“). In Hahns neuem Roman ist Stuttgart, wie es eben ist.

Wie ist es? Ziemlich desolat. Der Physiotherapeutin Cornelia ist der Mann weggelaufen und in seine griechische Heimat zurückgekehrt. Sie selbst wiederum flüchtet vor ihrer Depression nach New York und von dort aus weiter nach Meadville, PA, wo sie, auf den Spuren ihrer im 19. Jahrhundert nach Amerika ausgewanderten Verwandten, eine entfernte Cousine trifft und ein flüchtiges Liebesabenteuer absolviert. Die Oma daheim ist derweil von den verständlicherweise einigermaßen verstört zurückgelassenen Kindern überfordert, und der Opa ist nach einem „Schlägle“ bei seiner neuen Freundin. Der dicke, noch ganz kindliche Bruno wird in der Schule gemobbt, während sich Stella, die Teenager-Tochter, mit den vielfältigen Abenteuern der weiblichen Adoleszenz tröstet. Der junge Flüchtling Hamid weicht ihr nicht von der Seite, zieht dann aber zu seiner Familie nach Berlin.

Zum Schluss sind die Figuren noch einsamer und von noch tieferer stiller Verzweiflung erfüllt, als sie es jemals gewesen sind.

Die erzählerischen Ausflüge in die Geschichte der württembergischen Auswanderungsbewegung nach Amerika vermehren die dicht am Innenleben der Figuren entlanggeführte Erzählung um perspektivische Durchblicke in die Welt jenseits von Stuttgart und in die Zeit jenseits der unglücklichen Gegenwart. Aber weder die Erzählung noch ihre Figuren finden den rechten Ausweg aus dem von Stadtautobahnen und missratenden Großbaustellen zerpflügten Stuttgarter Talkessel. „Selbst auf einem anderen Kontinent stecke ich in dieser rasenden Kugel fest, in klebriger Innigkeit zusammengebacken mit allen, die ich liebe oder lieben muss.“

Entsagung, Innerlichkeit, stilles Unglück, Wehmut und die Verengung von Lebensperspektiven markieren einen biedermeierlich-spätromantischen Zug in Anna Katharina Hahns Roman – eine an Wilhelm Raabe oder Theodor Storm erinnernde ästhetische Atmosphäre. In der Schilderung von amerikanischer Auswanderung und Rückkehr der Familie nach Schwaben aus der Perspektive einer Puppe kommt dieser Zug auch erzähltechnisch zu sich selbst. Stuttgart ist zur Zeit Mörikes, Raabes, Friedrich Theodor Vischers und des schwäbischen Dichterkreises um Ludwig ­Uhland eine Hauptstadt der Biedermeierliteratur gewesen.

Literaturgeschichtlich-sozialpsychologische longue ­durée: Die Metropole am ­­Neckar inspiriert offenbar noch 150 Jahre später technisch perfekte, vage deprimierende, von Innerlichkeit und einer Melancholie des „Unwiederbringlichen“ umwehte Literatur. Sagt das etwas über die Stadt aus oder über die Zeitumstände, in denen wir uns befinden?