Philosoph Omri Boehm über Israel: „Gegen ethnischen Nationalismus“

Die Idee einer jüdischen Demokratie sei ein Widerspruch in sich, sagt Omri Boehm. Und plädiert für eine binationale Republik.

Omri Boehm.

Omri Boehm über die Nakba: „Erinnerung dient in diesem Fall der Zukunft, nicht der Vergangenheit“ Foto: privat

taz: Herr Boehm, Sie schreiben in Ihrem Buch „Israel – eine Utopie“ wiederholt von Elefanten im Raum, über die niemand spricht. Was sind für Sie die wichtigsten Tabus, die unbedingt gebrochen werden müssten?

Omri Boehm: Das erste ist die Idee einer jüdischen Demokratie. Der Wunsch, einen jüdischen Staat ins Leben zu rufen, war in den späten 1940er Jahren absolut verständlich. Das ändert aber nichts daran, dass eine „jüdische Demokratie“ ein Widerspruch in sich ist. Ein demokratischer Staat muss in Fragen der Ethnizität neutral bleiben und alle seine Bürger als Souverän begreifen. Ein jüdischer Staat garantiert aber die Souveränität des jüdischen Volkes, nicht der Staatsbürger als solcher. Wer würde es in Deutschland unterstützen, den jüdischen Bürgern zu sagen, dass sie nicht zum deutschen Staatsvolk gehören? Nur die schlimmsten AfD-Unterstützer. In Israel nimmt man das hin.

Warum geben Sie dem oberste Priorität?

In dem Maße, wie Israel sich von der sogenannten Zweistaatenlösung entfernt, sind Juden nicht einmal mehr die Mehrheit im Land. Die Alternative ist also, entweder den Staat immer jüdischer und immer weniger demokratisch zu machen oder darüber nachzudenken, wie wir Israel demokratischer machen können, ohne den gerechtfertigten Wunsch des jüdischen Volkes nach einem eigenen Staat aufzugeben. Darum geht es in meinem Buch. Es scheint unmöglich, aber das ist es nicht. Das war im Gegenteil der Wunsch der ursprünglichen Zionisten, und es gibt ­reale Möglichkeiten, sich das jetzt vorzustellen.

Tatsächlich? Was lässt Sie glauben, Ihre Vorstellung einer binationalen Republik könnte irgendwie realistisch sein?

Wir müssen doch eine demokratische Politik entwickeln, die sowohl zur Zweistaatenlösung als auch zum Status quo eine Alternative bietet. Derzeit gibt es da nichts anderes als ein binationales Programm, wie ich es vorschlage. Wir müssen daran arbeiten, das zu einem ernstzunehmenden politischen Vorschlag auszubauen – diese Utopie ist die nächste Realpolitik. Ihr Kollege Klaus Hillenbrand hat in der taz eine interessante Kritik geschrieben, in der er argumentiert, mein Plan ginge auf die unpolitischen Fantasien der Brit-Schalom-Bewegung zurück. Aber das ist ein Missverständnis: Mein Programm geht auf Menachem Begin 1977 zurück, nicht auf Brit Schalom. Begins Plan wurde in der Knesset vorgeschlagen und angenommen! Die Aufgabe ist es, ein ähnliches Programm zu rehabilitieren. Auch das ist, ohne Zweifel, sehr schwierig.

Und das zweite Tabu?

Die Unmöglichkeit der Zweistaatenlösung. Es scheint undenkbar, die Zweistaatenpolitik aufzugeben, denn man braucht einen palästinensischen Staat, um nicht „zu viele“ Nicht-Juden in Israel zu haben. Aber es wird keine Zweistaatenlösung geben, und wir können es uns nicht leisten, diese Realität einfach wegzuschieben.

1979 geboren in Haifa, lehrt heute als Professor für Philosophie an der New School for Social Research in New York. Sein Buch „Israel – eine Utopie“ ist im Propyläen Verlag erschienen. 220 Seiten, 20 Euro.

Sie beschreiben den Holocaust als Kern des israelischen Gründungsmythos und fordern, wir müssten lernen, den Holocaust zu vergessen.

Mit vergessen meine ich, besser zu erinnern. Wir erinnern uns derzeit auf eine sehr spezielle Weise an den Holocaust, die letztlich einer falschen Politik dient. Aber dazu ist die Erinnerung an den Holocaust zu wichtig. Diese Art und Weise muss sich ändern und in diesem Sinne vergessen werden. Anders wird die Erinnerung keine Zukunft haben.

Was heißt das?

Die Erinnerung an den Holocaust sollte in Israel eine bürgerliche, patriotische Pflicht aller Bürger sein – und eine feste Bindung an den Universalismus. Im Gegensatz dazu befördert die Holocaust-Erinnerung derzeit eine Identitätspolitik nur für die Juden, nicht für alle Bürger, und ein mythisches Verständnis des jüdischen Staates als heiliges Gebilde. Das steht der Eigenschaft der Staatsbürgerschaft als demokratischem, vereinigendem Prinzip von Juden und Arabern im Weg. Wir müssen uns auch erinnern, dass unser Konflikt mit den Palästinensern kein Konflikt mit den Nazis ist. In diesem Land, wo Juden und Araber das Zusammenleben werden lernen müssen, werden sie auch lernen müssen, gemeinsam zu erinnern. Woran Menschen sich erinnern, das können sie auch hinter sich lassen.

Also ist die Erinnerung doch das Wichtigste?

In diesem Sinne ja, und das gilt auch für die Nakba, also die Vertreibung von rund 700.000 Palästinensern 1948. In Israel wird darüber nicht gesprochen, so als sei es nie passiert. Und weil es die öffentliche Erinnerung nicht gibt, können wir es nicht hinter uns lassen. Wir werden ständig davon verfolgt. Wir sehen das jetzt, da die Politik der Nakba wiederkommt, sowohl auf der Rechten als auch in der Mitte. Erinnerung dient in diesem Fall der Zukunft, nicht der Vergangenheit: Wenn es keine demokratische Alternative gibt, ist eine zweite Nakba möglich, nicht „nur“ Apartheid.

Warum ist das Sprechen über die Nakba ein Tabu, wenn doch bis heute die Meinung vorherrscht, dass sie notwendig war, um eine jüdische Bevölkerungsmehrheit in einem jüdischen Staat aufzubauen?

Wenn die Nakba notwendig war, zeigt das die Problematik des Zionismus, denn dieses Konzept eines jüdischen Staates bedeutet ethnischen Nationalismus. Wir können den historischen Kontext dessen debattieren, was 1948 gemacht wurde, so kurz nach dem Ende des ­Holocausts. Aber dass es nie hätte passieren dürfen, sollte nicht infrage gestellt werden.

Aber sowohl Leugnung der Vertreibung als auch die Betonung ihrer Notwendigkeit gehen doch genau in die andere Richtung?

Die Frage ist, wie wir heute damit umgehen. Wie konstruieren wir einen jüdischen Staat im 21. Jahrhundert, der keine zweite Nakba braucht, um eine jüdische Mehrheit zu haben und eine jüdische liberale Demokratie zu sein? Derzeit scheint die Debatte dahin zu laufen, das Problem entweder zu ignorieren oder im Namen des Zionismus in Richtung einer zweiten Nakba zu schlittern. Die andere Alternative wäre, sich vom Zionismus zu verabschieden. Ich halte beides für falsch und schreibe im Buch: Wir können es uns leisten, härter nachzudenken. Wir können den Idealen des Zionismus, dass Juden nationale Selbstbestimmung brauchen, ohne ethnischen Nationalismus, treu bleiben.

Sie hadern mit dem, was in siebzig Jahren der Existenz des Staates Israel im Namen des ­Zionismus gemacht worden ist, versuchen aber dennoch um jeden Preis, den Zionismus als Vorstellung zu erhalten. Warum?

Es gibt für mich keinen akzeptablen Weg vorwärts, ohne auf dem Recht der Juden auf nationaler Selbstbestimmung zu bestehen. Auch realpolitisch geht sonst nichts voran. Mein Projekt ist es, zu lernen, wie man dieses Recht demokratisch leben kann.

Mir ist aufgefallen, dass die Araber, die Palästinenser, in Ihrem Buch als handelnde Akteure fast gar nicht vorkommen, nur als Opfer.

Ich sehe das genau umgekehrt. Derjenige, dessen Gedanken im Buch am besten wegkommen, ist der arabische Knesset-Abgeordnete Ahmad Tibi, auf dessen Holocaust-Gedenkrede ich eingehe. Um sicher zu sein: Araber sind nicht nur Opfer und nicht nur tolle Politiker. Natürlich gibt es Rassismus, Antisemitismus und anti-israelischen Terrorismus in der arabischen Community. Aber man macht es den Nationalisten zu einfach, indem man immer mit dem Finger auf die Hamas zeigt und sagt: Mit denen kann man nicht leben. Wenn man das macht, verliert man, bevor man gekämpft hat. Die Vereinte Liste der arabischen Parlamentarier, geführt von Ayman Odeh, Ahmad Tibi und anderen, das sind die besten Leute, mit denen man zurzeit arbeiten kann, um binationale Visionen voranzubringen.

Die Vereinte Liste hat aber nur 15 von insgesamt 120 Sitzen in der Knesset. Ein bisschen wenig zum Aufbau Ihrer binationalen Republik, finden Sie nicht?

Die Vereinte Liste hat ihren Anteil unter jüdischen Wählern in den letzten fünf Monaten mehr als verdoppelt. Mein Vater, Reserveoffizier, Sohn von Holocaust-Überlebenden und lebenslanger liberaler Zionist, hat die Vereinte Liste gewählt. Die Arbeitspartei ist verschwunden, Meretz ist am Zusammenbrechen, weil inzwischen jeder in Israel weiß, dass die Zweistaatenlösung, die sie beharrlich gepusht haben, nicht kommen wird. Wenn die Vereinte Liste jetzt mehr und mehr jüdische Repräsentanten aufnimmt und einen guten Wahlkampf auf Hebräisch führt, dann kann sie eine neue Basis aufbauen und vielleicht auf 23 bis 25 Abgeordnete kommen.

Das sind immer noch nicht einmal ein Viertel der Abgeordneten.

Ja, aber dann wäre sie die stärkste Oppositionspartei, und das gibt ihr andere Möglichkeiten, Alternativen aufzuzeigen. Das ist ein Anfang. Und dazu kommt die liberale Rechte. Sie war historisch gesehen immer sehr offen gegenüber der Idee einer multinationalen Entität – siehe den Plan Begins. Israels Staatspräsident Reuven Rivlin unterstützt bis heute eine Ein-Staat-Lösung und sagt von sich, dass er Demokrat ist – also wie weit weg ist er von meinem Vorschlag einer binationalen Republik. Und auch manche Siedler könnten sich so einem Programm viel eher anschließen als der Zweistaatenlösung, weil die ihre Evakuierung bedeuten würde.

Was würden Sie sich von deutschen Intellektuellen und deutscher Politik erhoffen?

Verantwortungsvoll über Israel zu sprechen. Und das heißt, sich nicht daran zu ergötzen – und diese Tendenz gibt es auch –, Israel als einen kriminellen Staat anzuprangern. Aber auch nicht – und das ist die andere Tendenz – einfach gar nichts zu sagen. Die deutsche Tendenz zur Zurückhaltung kommt aus einer verständlichen Angst, mit einer Kritik antisemitisch zu handeln, also die eigentlichen Opfer anzugreifen und sie als Täter darzustellen. Aber nicht über Israel zu sprechen bedeutet, Israel zu einem heiligen, mystischen „Anderen“ zu erklären. Etwas, über das wir nicht rational nachdenken dürfen, das schon eine Tür zum Antisemitismus

öffnet. Die einzige Antwort auf den Antisemitismus wäre die Fähigkeit – keine einfache in Deutschland –, die Juden als ganz normale Leute und den Staat Israel als eine ganz normale politische Einheit zu betrachten.

Sie sagen, der derzeitigen israelischen Regierung wäre eine AfD-geführte Bundesregierung viel lieber als eine CDU- oder SPD- oder Grünen-geführte. Warum das denn?

Das ist einfach eine Tatsache. Unter israelischen Juden gibt es derzeit fast einen vollständigen Konsens der Zustimmung zu Trumps Deal des Jahrhunderts, Annexionen usw. Dazu braucht Israel internationale Unterstützung. Die bekommt es von denen, die mit Israels Regierung die Idee des ethnischen Nationalismus teilen: von Donald Trump, von Brasiliens Bolsonaro, Viktor Orbán. Deutschland ist der wichtigste Unterstützer Israels in Europa und der zweitwichtigste weltweit, aber anders als Trump lehnt es die Annexionen ab. Eine AfD-Regierung würde das nicht tun.

Obwohl da Nazis und offene Antisemiten dabei sind?

Erinnern Sie sich an Charlottesville, wo US-Nazis mit Hakenkreuzen aufmarschierten und riefen „Jews will not replace us!“ (Juden werden uns nicht ersetzen)? Donald Trump nannte sie „gute Leute“. Ist das besser als die AfD? Israels Regierung sagte gegen diese Äußerung Trumps so gut wie gar nichts – er gilt als unser bester Freund. Stimmt, die AfD ist deutsch, und wenn so was mit deutschem Akzent kommt, ist das unerfreulich. Das ist aber der Punkt: Wie Trump wird sich die AfD als diejenige darstellen, die als einzige aus der Geschichte wirklich gelernt hat, weil sie Israel ohne Wenn und Aber unterstützen kann. Wir müssen darauf bestehen: Die Erinnerung an den Holocaust muss den Universalismus befördern, nicht den Nationalismus. Nicht in Israel und auch nirgendwo sonst.

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