DJ Rabih Beaini zu Explosion in Beirut: „Libanons BürgerInnen aufrütteln“

Die Proteste nach der Explosion in Beirut gingen von der Kulturszene aus. Der DJ Rabih Beaini über Korruption und Wiederaufbau in seinem Heimatland.

Der Musikproduzent Rabih Beaini in seinem Studio

Rabih Beaini ist Musikproduzent, er lebt in Berlin. Gerade brachte er ein Beirut-Soli-Album heraus Foto: Ksenia Les

taz am wochenende: Herr Beaini, Anfang August kam es zu der gewaltigen Explosion in Beirut, obendrauf die gravierende Wirtschaftskrise und die Coronapandemie im Libanon. Was haben Sie gedacht?

Rabih Beaini: Wir liegen am Boden und werden noch tiefer getreten. Die Stadt ist teils zerstört. Trotzdem kam die Explosion nicht aus heiterem Himmel, Beirut ist Detonationen gewöhnt.

Als wir das letzte Mal gesprochen haben, kamen Sie aus Indonesien, wo Sie erfahren mussten, dass es Orte gibt, an denen Kultur nicht oberste Priorität hat. Sind andere Themen im Libanon jetzt drängender?

Die Proteste gegen die Regierung haben viel mit der Kulturszene zu tun. Von ihr geht Aktivismus aus. KünstlerInnen sind in der ganzen Welt unterwegs und repräsentieren das Land mehr als die Politiker. Unsere Kultur ist ein seltsamer Hybrid aus Geschichte, die man nicht loswird, und optimistischem Zukunftsglauben. Auch ein Spuk, der uns umtreibt: Überall wird von uns erwartet, dass wir über den Bürgerkrieg sprechen oder ihn in unseren Werken verarbeiten.

geboren 1976, aufgewachsen in der Gegend von Byblos in den Jbeil-Bergen der libanesischen Yanouh-Region. Nach einem Aufenthalt in Venedig von 1996 bis 2012 lebt der DJ und Produzent seither in Berlin, wo er das Label Morphine betreibt und KünstlerInnen aus der ganzen Welt veröffentlicht. Als DJ ist er eine Bank.

Sie meinen den Bürgerkrieg von 1975 bis 1990?

Nicht nur den, auch den Krieg von 2006, der meine Generation geprägt hat. 1990 war ich 14. 2006 hat es mich in die Welt hinausgezogen, da lebte ich bereits in Italien. Uns Libanesen wird Opferbereitschaft in bewaffneten Konflikten nachgesagt, das soll auch in Kulturbeiträgen eine Rolle spielen.

Wir müssen eher die BürgerInnen aufrütteln, um ihnen klarzumachen, dass es Alternativen zum Parteiensystem gibt und zu den Politikern, die sie ihr Leben lang unterstützt haben. Daher würde ich sagen, die Arbeit der Kulturszene ist überlebenswichtig.

Mehr als die Hälfte der Libanesen lebt unter der Armutsgrenze. Armut ließe sich mit Bildung bekämpfen, nur gibt es im Libanon gar keine allgemeine Schulpflicht. Wie rasch lassen sich strukturelle Übel beheben?

Die Mächtigen würden sagen, momentan gibt es dafür kein Budget. Missmanagement hat so gravierende Folgen, dass die Menschen gar nicht merken, wenn sie Kinder vernachlässigen, weil sie glauben, die Krise sei bald passé. Es wird ein Generationenprojekt, die Propaganda-Gehirnwäsche der letzten fünfzig Jahre zu tilgen. Das Bildungssystem muss grundlegend reformiert werden. Auch die Schulbücher. Hitler wird hier als Held dargestellt, wo er doch ein Monster war.

Samir Kassir, ein renommierter Journalist, der 2005 mit einer Autobombe umgebracht wurde, schrieb in seinem Essay „Das arabische Unglück“ von einer Ohnmacht gegenüber den Verhältnissen. Die politische Elite steht im Banne von Verbänden wie der Hisbollah, die Viertel in Beirut kontrolliert und Posten besetzt. Wo würden Sie ansetzen?

Wenn wir sagen, wir beseitigen Korruption, müssen wir bei uns anfangen. Europäische Parteien sind institutionell, ihre Arbeit ist demokratisch eingehegt. Im Libanon reden Parteien mit deinem Onkel, sie „beschützen“ deinen Laden, und sie werben für dein Produkt. Sie können dir eine lukrative Arbeit verschaffen. Es gibt keine Krankenversicherung, darum kümmern sich Individuen in deinem Umfeld. Aber die Hilfe verpflichtet bis ans Lebensende zu unbedingter Gefolgschaft. Kaum jemand stellt die Praxis infrage.

Wie sagt man dazu, Klientilismus?

Es ist vergleichbar mit der Funktionsweise der Cosa Nostra. Im Libanon gibt es den Dokumentsammler, der Briefverkehr vom Amt an die Bürger erledigt und Stempel besorgt. Wenn wir selbst unterschreiben würden, stünden wir tagelang an, der Sammler kassiert eine Summe und geht mit seinen Schreiben an der Schlange vorbei.

Macht wird im Libanon vererbt. Nachdem ein Führer abtritt, übernimmt sein Sohn, dann kommt sein Enkel: Aoum, Hariri, Jumblatt, Gemayel sind politische Clans, die Nachkommen gar nicht fähig, ein Land zu führen. Ich bin nicht gegen Politiker und Parteien, ich bin gegen Führer, die nach ihrem Tod an der Macht bleiben und etwas vermitteln, das nichts mit der Realität zu tun hat.

Es führt dazu, dass Koalitionen überhaupt keinen Sinn ergeben. Damit soll verschleiert werden, dass ein Agglomerat Schmiergelder unter sich aufteilt. Dagegen kämpfen wir.

Verhindert die libanesische Diaspora, ob in Brasilien, der Elfenbeinküste oder Deutschland lebend, mit ihrer Hilfe im Kleinen den Bankrott im Großen?

Die meisten haben irgendwo in der Welt Verwandtschaft. Seit die Währung abgewertet wurde und Leute ihre Ersparnisse verloren haben, ist die Solidarität der Diaspora noch gewachsen.

Die Politikwissenschaftlerin Lina Khatib hat in einem Essay im Guardian gefordert, dass nun Transparenz, Rechenschaft und Fairness walten müssen. Wie wären diese zu implementieren?

Die Bürger wissen seit dem Müllskandal von 2015, wie systematisch Korruption ist. Regierungs­gelder werden im großen Stil veruntreut. Die politische Kaste hat sich seit damals nicht mal mehr versteckt, sie wusste, sie hat nichts zu befürchten. Ich sehe auch jetzt, wie sich die Mächtigen beim IWF anwanzen, um an Hilfsgelder zu kommen. Die möchten keine Sachspenden, die wollen Geld.

Soeben hat Morphine Records den Sampler „The Sacred Rage“ veröffentlicht, mit zwölf Tracks von Label-KünstlerInnen, darunter Monolake, Radwan Ghazi Moumneh und Beaini selbst. Alle Einkünfte werden Hilfsorganisationen in Beirut wie der Food Heritage Foundation und dem libanesischen Roten Kreuz zur Verfügung gestellt, die Wiederaufbauhilfe leisten. https://morphinerecords.bandcamp.com

Was wäre Ihre Botschaft ans Ausland?

Schicken Sie dem Staat kein Geld! Der französische Präsident Macron hat gesagt, er sammelt Geld und gibt es persönlich an ein außerstaatliches Komitee. Das wäre ein Anfang für Transparenz. Rechenschaft muss erst noch kommen.

Soweit ich weiß, übersteigt die Summe des Geldes, das libanesische Politiker illegal auf Schweizer Konten geparkt haben, das Drei- bis Vierfache der Staatsschulden. Also sollte man dieses Kapital einfrieren oder, besser, dem libanesischen Volk übereignen.

Kassir bezeichnete Beirut als „Freiraum der arabischen Kultur“, wird dies beim Wiederaufbau helfen?

Vielfalt und religiöse Diversität sind ausgeprägt. Ich habe im Viertel Ishbilia gewohnt, Tür an Tür mit Christen und Moslems. Wenn es Anschläge gab, sind alle in die Berge geflüchtet, obwohl sie offiziell verfeindet waren.

Die Popszene ist ebenfalls vielfältig. Sie haben oft Bezug genommen auf libanesischen Pop. So haben Sie einen House-Edit von „Tanki Tanki“ gemacht, einem Song von Rene Bendali (1984), der sich auf den Bürgerkrieg bezieht.

Mir ging es nicht darum, der Welt zu zeigen, dass wir coole Popsongs haben. „Tanki Tanki“ ist geistesverwandt mit Acidhouse. Ich habe mir beim Remix vorgestellt, das Lied wird in Chicago aufgelegt. Ich kannte es aus Kindertagen, und sein zynischer Text hat Kriegsrealität veranschaulicht. Bendali zählt auf, wie und was rationiert ist: ein Laib Brot, ein Liter Benzin, und er zieht es ins Lächerliche. Dazu gibt es Referenzen an Drogen.

Wie geht es weiter mit Beirut als kulturellem Labor?

Die Stadt ist kleiner als Berlin, aber das Energie-Level ist durchaus vergleichbar, auch was die Lebenslust angeht. Nun sind viele Orte und Institutionen durch die Explosion beschädigt. Clubs, Galerien und Ateliers nahe beim Hafen – alles zerstört. Die meisten Künstler sind unverletzt geblieben, aber fast alle haben nun Angehörige zu versorgen, kümmern sich um Freunde und Nachbarn.

Es wird hart. Die Kulturszene wird trotzdem überleben, und ihre Stunde wird kommen, denn sie wird gebraucht beim Wiederaufbau. Die Leute müssen Dampf ablassen, wo ginge das besser als im Nacht­leben?

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